Auch so kann man
über Depressionen
schreiben!
|
|
Bewertung:
„Schmerz jeder Art ist eine isolierende Erfahrung“, schreibt Matt Haig auf Seite 144 seines offenen, liebevoll geschriebenen Buches über seine Erfahrung mit Angst und Depression. Isolation und Wegschauen - warum fällt es der Gesellschaft so schwer, mit psychischen Erkrankungen respektive mit Depressionen umzugehen?
Haig versucht es rational, er bemüht Statistiken über depressive Erkrankungen und über Selbstmordraten. Doch das zeigt eher, dass es nichts bringt zu sehen, wie sich die Zahl der depressiven Erkrankungen verändert oder auch wie sich die Verteilung zwischen Frauen und Männern verändert. Allgemeine Spekulationen helfen Menschen, die von Depressionen direkt oder indirekt (als Angehörige oder Freunde) gar nichts, denn so wie jeder Mensch speziell und besonders ist, ist auch jede Depression speziell und besonders.
Sehr intensiv beschreibt Haig seine eigenen Schmerzen und Gefühle, als er mit 24 Jahren in eine tiefe Depression rutschte:
„Achtung. Wer glaubt, ein depressiver Mensch wolle glücklich sein, irrt sich gewaltig. Depressive Menschen haben nicht das geringste Interesse am Luxus des Glücklichseins. Sie wollen einfach nur keinen Schmerz mehr spüren. Ihrem Gehirn entfliehen, das in Flammen steht, in dem die Gedanken lodern und qualmen wie alte Besitztümer bei einem Wohnungsbrand.“
Solche zutiefst ehrlichen und existentiellen Passagen machen das Lesen von Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben zu einem intensiven Erlebnis, gerade wenn man schon selbst mit schwer depressiv erkrankten Menschen zu tun gehabt hat. Wie schnell rutschen einem Sätze raus wie „Na, das wird schon wieder“ oder „Komm, das kann doch nicht so schlimm sein“. Matt Haig hat solche Sätze gesammelt und darüber Listen angefertigt, er hat auch Listen angefertigt über die psychischen und physischen Symptome seiner Depression. Das geht wirklich unter die Haut!
Der unprätentiöse Sprachstil in der hervorragenden Übersetzung von Sophie Zeitz schafft eine angenehme Distanz, man hat das Gefühl sich in jeder Sekunde selbst entscheiden zu können, wie weit man sich einlässt. Weit weit weg von Ratgeberliteratur vermeidet Haig auch nur im Ansatz jemanden belehren zu wollen. Man wünscht dem Buch nun auch in Deutschland viele Leser, vor allem Leser, welche schon direkt oder indirekt mit Depressionen zu tun gehabt haben. Laut Stiftung Deutsche Depressionshilfe sind in Deutschland ca. 3 Millionen Menschen zwischen 18 und 65 Jahren immer akut von einer Depression betroffen; da Depressionen in Phasen verlaufen, ist die Zahl der Menschen, welche schon mal an einer Depression erkrankt waren, noch viel viel höher - sagen wir mal 6 Millionen. Wenn man davon ausgeht, dass jeder an einer Depression Erkrankte 5 bis 10 direkte Angehörige und Freunde hat, erwarten das Buch dann 30 bis 60 Millionen Leser in Deutschland!
|
Steffen Kühn - 22. März 2016 ID 9211
Matt Haig | Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben
Hardcover, 304 Seiten
EUR 18.90 [D] 19.50 [A]
dtv, 2016
ISBN 978-3-423-28071-6
http://www.dtv.de/buecher/ziemlich_gute_gruende_am_leben_zu_bleiben_28071.html
Post an Steffen Kühn
http://www.hofklang.de
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeige:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
AUTORENLESUNGEN
BUCHKRITIKEN
DEBATTEN
ETYMOLOGISCHES von Professor Gutknecht
INTERVIEWS
KURZGESCHICHTEN- WETTBEWERB [Archiv]
LESEN IM URLAUB
PORTRÄTS Autoren, Bibliotheken, Verlage
UNSERE NEUE GESCHICHTE Reihe von Helga Fitzner
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|