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Vorneweg gestehe ich, dass ich Miranda Julys The First Bad Man (Der erste fiese Typ) nicht ganz unbefangen begegne. Ausatmen. Einatmen. Der Möglichkeitsfilm The Future der Allround-Künstlerin aus LA von 2011 rührte mich bereits mit seinen poetisch-erhebenden Momenten; und skurrile Selbstoffenbarungen in Es findet dich (2012), in der July Hausbesuche bei ausgewählten Pennysaver-Inserenten dokumentiert, rissen mich zu einer Rezension mit gar verstecktem Kennenlernwunsch hin. Ihrem jüngst erschienen, ersten Roman fieberte ich so mit gewisser Leseerwartung entgegen, die ich bei der Lektüre jedoch vollkommen vergaß. Die vergnügliche Geschichte forderte zu sehr mit der dichten, assoziationsreichen Sprache und der aufopferungsvollen, skurrilen Ich-Erzählerin, die, scheinbar durch Obsessionen beflügelt, völlig unerwartet ihrer neuen, ungewöhnlichen Lebenssituation begegnet.

Anfangs stolperte ich noch über einige Tippfehler, wie etwa auf Seite 84 „Prakitkantin“ oder auf Seite 86 „Wir saßen ich einem Boot“. Doch schnell zog mich die Geschichte um zwanghafte Neurosen, Tritte in die Leistengegend, Oralsex und Beziehungen mit großem Altersunterschied in ihren Bann. Julys 43jährige Protagonistin Cheryl Glickman arbeitet in einer Firma namens Open Palm, die nach dem Anbieten von Selbstverteidigungskursen für Frauen dazu überging, Fitness-DVDs zu produzieren. Cheryl, heimlich in den über 20 Jahre älteren Arbeitskollegen Phillip verliebt, deutet seine lang erhofften Annäherungsversuche fehl. Phillip hält Cheryl für einen aufmerksamen und belastbaren „Kumpel“ und zieht sie ungefragt in ein kindliches Spiel hinein. Sie soll als eine Art moralische Instanz entscheiden, ob er und seine 16jährige Geliebte Sex haben dürfen. Unanständige Textnachrichten, mit denen Phillip Cheryl fortan über den Stand der körperlichen Annäherung zur Minderjährigen auf ihrem Mobiltelefon belästigt, gibt der Roman in Majuskeln wieder. Kursivschrift hebt wiederum Gedanken oder Bewusstseinsströme der Protagonistin oder eines Babys namens Kubelko Bondy hervor. Denn mit letzterem kommuniziert die Protagonistin telepathisch seit ihrem neunten Lebensjahr.

Eine jüngere Frau tritt bald auch in Cheryls eigenes Leben. Denn ihre Vorgesetzten quartieren die 21jährige Tochter Clee bei ihr ein. Erst sind es stumme Machtkämpfe, die Cheryl mit der undankbaren, ungebildeten und faulen Clee oft erfolglos ausfechtet. Später werden die Machtkämpfe körperlich, und Clee gesteht gar Cheryl, dass sie „Misogynistin“ sei. Die blauen Flecken, mit denen Cheryl fortan gestraft ist, verheilen. Beide finden Gefallen am Erproben verschiedener Kampftechniken, doch schließlich begegnet Clee Cheryl gar zärtlich. Sie ist schwanger und sehnt sich nach einem Partner. Cheryl findet sich mit Clee händchenhaltend in der Öffentlichkeit wieder:


„Ich mochte es, ihre Hand zu nehmen, wenn Männer ihr schöne Augen machten, und dann zu sehen, wie ihnen die Kinnlade runterklappte. Ich! Eine Frau, die schon viel zu alt war und auch ansonsten nie in Frage gekommen wäre, nicht einmal in ihrem Alter. Jeder, der daran zweifelte, wie viel Erfüllung einem eine Freundin geben kann, die nicht die Hellste ist und halb so alt wie man selbst, hat noch nie eine gehabt.“ (S. 247)


Spannung erzeugen immer wieder witzige zwischenmenschliche Beobachtungen: „Sie sah mich an, ihr Blick wanderte einmal von oben bis unten und dann wieder nach oben, aber nicht bis zu meinen Augen, nur bis zum Hals.“ (S. 289)

Bald merkt Cheryl, dass sie zur zentralen Bezugsperson von Clees Neugeborenen erhoben wird, und fügt sich – wie so oft – in ihr Schicksal:


„Aber bei Sonnenaufgang erreichte ich den Gipfel meines Selbstmitleidbergs und erinnerte mich daran, dass ich am Ende dieses Lebens sowieso sterben würde. Was machte es da schon, wenn ich es so verbrachte – mich um diesen Jungen kümmerte -, statt auf irgendeine andere Art und Weise? Erdverhaftet war ich so oder so, er hatte mir nicht die Fähigkeit zu fliegen oder meine Unsterblichkeit gestohlen.“ (S. 265)


Den verschrobenen Roman bereichern zahlreiche skurrile Nebenfiguren, wie eine patientenlose und von einem Kollegen besessene Psychotherapeutin, die der Protagonistin zeitweise mit ebenso peinlichen wie hilfreichen Ideen zur Seite steht und mit ihr sogar intime Momente beim Stuhlgang teilt. Dass sich irgendwann die meisten Figuren im Wartezimmer eines gewissen Chromotherapeuten wiederfinden oder begegnen, erscheint jedoch einigermaßen unglaubwürdig. Leicht übertriebene Bezüge zu US-amerikanischen Fernsehsendungen sind teilweise nicht immer zuordenbar. Immerhin sind geschilderte Entwicklungsschübe der Figuren und ihre sexuellen Phantasien provokanter, tabuloser und interessanter als bei einer Charlotte Roche. Alles in allem also höchst verrückt-vergnüglich.
Ansgar Skoda - 5. Oktober 2015
ID 8912
Miranda July | Der erste fiese Typ
Hardcover, 336 Seiten
€ 19,90 [D] I € 20,60 [A] I CHF 27,90
Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2015
ISBN: 978-3-462-04770-7


Weitere Infos siehe auch: http://www.kiwi-verlag.de/buch/der-erste-fiese-typ/978-3-462-04770-7/


Post an Ansgar Skoda

http://www.ansgar-skoda.de



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