Eine Prosa, die ihresgleichen sucht
|
|
Bewertung:
Dieser Roman ist eine Zumutung: Weil die Dichte der Anspielungen, der Verweise und Zitate einfach unüberschaubar ist. Weil hier ein historischer Roman vorliegt, der mit einer ausufernden Gründlichkeit recherchiert wurde, so dass das Buch ein wahres Kompendium kulturhistorischen Wissens des frühen neunzehnten Jahrhunderts darstellt. Vor allem aber, weil es im Wortsinne ein verrücktes Buch ist, das die Koordinaten unseres Denkens verschiebt, indem es die Naturgeschichte der Schönheit in ihrer ganzen Obszönität darstellt.
Und doch: Dieser Roman ist eine Prosa, die ihresgleichen sucht. Denn Thomas Hettche ist ein Autor, der Sätze schreibt, als wollte er die Sprache einer vergangenen Zeit neu erfinden. Ein romantischer Traum wäre dies, ganz und gar einer vergangenen Epoche verhaftet, als der Dichter noch jenes "Zauberwort" zu erhaschen suchte, von dem Eichendorff sprach. Der Roman Pfaueninsel ist demgegenüber aber ein zutiefst zeitgenössisches Projekt. Denn der Erzähler weiß, dass selbsterklärende Zauberworte nicht zu haben sind. Die Welt will mühsam entziffert werden. Dafür bedarf es umständlicher Erläuterungen. Wie wunderlich, wie wunderbar ist dieses ehrgeizige neoromantische Unterfangen des Thomas Hettche.
Mit Maria Dorothea Strakon, jener historisch verbürgten Zwergin, die seit 1806 ihr gesamtes Leben auf der Pfaueninsel im seichten Seeland der Hafel verbrachte, begegnet der Leser - in den diskriminierenden Worten jener Zeit - einem "Monster". So jedenfalls wird ihr ebenfalls zwergwüchsiger Zwillingsbruder Christian genannt, und dieses Unwort wird die Protagonistin bis zu ihrem Lebensende verfolgen. Es bringt ihre obszöne Identität auf den Punkt. Wir haben es zum einen mit der Geschichte einer zwergwüchsigen Frau zu tun, die zwischen zwei Männern steht, wobei der Gärtnersohn Gustav gewissermaßen das appollinische Prinzip verkörpert, also Klarheit und Harmonie des Pflanzlichen, während ihr Zwillingsbruder das Dionysische, Tierische und Irrationale darstellt. Doch mit demselben Recht ist Maries Geschichte eine Fabel der weiblichen Selbstemanzipation. Denn gierig verschlingt sie jene Bücher, die ihr der greise Lehrer Mahlke überlässt und so entwickelt sie sich zu einer Persönlichkeit, die schon auf den ersten Seiten der "Neue Héloise" erkennt, dass dieses Buch ihr Leben verändern wird. Maries Geschichte ist damit auch eine Entwicklungsgeschichte, die den berühmten männlichen Bildungsreisenden von Wilhelm Meister bis zum Grünen Heinrich in nichts nachsteht.
Es ist nicht erzählerischer Übereifer, wenn dem Leser auf Schritt und Tritt weitschweifende Erklärungen angeboten werden. Die Deutung ist ein notwendiges Erfordernis dieser Prosa. Der Erzähler will die aufblühende Modernität nicht nur durch die Handlung darstellen, sondern in Form der Reflexion dessen durchmessen, was der Philosoph Hegel das "sinnliche Scheinen der Idee" nannte: Kann eine Zwergin schön sein, weil sie eine Idee verkörpert? Oder liegt Schönheit nur im Auge des Betrachters? Wenn Hettche diese Fragen entwickelt, vermag er es auf eine Weise, die ganz im Geist und Vokabular jener Zeit gründet und doch den heutigen Leser teilhaben lässt an der Verzahnung von Sein, Schönheit und Selbstbewusstsein. So lesen wir über Marie: "Ungläubig ging sie immer näher an das Spiegelbild heran und musterte ihren vor Kälte schlotternden Körper so gründlich wie möglich, doch kein Gefühl wollte sich einstellen. Lange suchte sie dann im Spiegel ihren eigenen Blick, als wäre mit ihm etwas falsch. Doch ein Blick lässt sich nicht anblicken. Aus dem Spiegel sah niemand zurück, sosehr sie sich auch bemühte, sich selbst in die Augen zu sehen."
Thomas Hettche ist einer der herausragenden Stilisten seiner Generation. Dabei besteht seine Kunst seit den Anfängen - den legendären Romanen Ludwig muss sterben und Nox - in einer höchst eigenwilligen Art von Gedankenprosa. Es wäre wohl nicht verkehrt, dieses Buch als literarische Reflexion über die Obszönität der Menschennatur zu lesen.
|
Jo Balle - 22. September 2014 ID 8114
Thomas Hettche | Pfaueninsel
352 Seiten, gebunden
(D) 19,99 € | (SUI) 28,00 sFr | (A) 20,60 €
Kiepenheuer & Witsch, 2014
ISBN 978-3-462-04599-4
Weitere Infos siehe auch: http://www.kiwi-verlag.de/buch/pfaueninsel/978-3-462-04599-4/
Post an Dr. Johannes Balle
|
|
|
Anzeige:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
AUTORENLESUNGEN
BUCHKRITIKEN
DEBATTEN
ETYMOLOGISCHES von Professor Gutknecht
INTERVIEWS
KURZGESCHICHTEN- WETTBEWERB [Archiv]
LESEN IM URLAUB
PORTRÄTS Autoren, Bibliotheken, Verlage
UNSERE NEUE GESCHICHTE
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|