Neuro?
Atheismus?
Kombiniert?
|
|
Bewertung:
Der neue, recht dünne Gedichtband NEUROATHEISMUS von Tom De Toys enthält nur 21 Gedichte aus den Jahren 1989 bis 2015, ist aber auch dementsprechend günstig. Die eBook-Version wird sogar acht Wochen lang zum Einführungspreis von nur 1,99 EUR angeboten. Die Auswahl hat der Autor selbst besorgt. Alle Gedichte finden sich bereits in früheren Publikationen, sodass die Frage entsteht, welchen Zweck dieser Gedichtband erfüllt.
Im Untertitel werden die Gedichte als "transreligiös" bezeichnet, ein Ausdruck, den De Toys bereits seit 2004 für seinen Lochgebete-Zyklus verwendet. Zwei der Lochgebete sind in dem neuen Heft enthalten. Sie sind "für das 23. Jahrhundert" geschrieben. In dem Gebet ZUR OFFENEN MITTE heißt es in Großbuchstaben: "DAS GRENZENLOSE LOCH IN MIR / RUHT ÜBERALL IN SEINER MITTE / ES VERBINDET MICH MIT DIR / UND TREIBT UNS VON HIER NACH HIER". Das wirkt wie eine doppelte Schlüsselerkenntnis: Zum Einen ermöglicht die "gelochte" Mitte eine direkte Verbindung zwischen dem Ich und dem Du ohne einen ideologischen Filter in der Wahrnehmung. Und zum Anderen initiiert diese Mitte eine Bewegung ins totale Hier und Jetzt ohne ein transzendentes "Dort". Das direkte Du ohne jenseitige Dimension ist vielleicht das Kernthema der Gedichtauswahl und erklärt auch den Titel. Wo früher traditionell Gott angesiedelt wurde, ist nun eine Leere, die mit konkretem Leben gefüllt wird. Das verdeutlichen die Zeilen "die mitte leuchtet überall / wenn wir uns treffen / trifft sich die materie / gegenseitig selbst" im Gedicht ÜBERDU von 1998. Aber auch schon das Liebesgedicht (D)UR(CH)DÄNKER von 1997 bestätigt diesen Verdacht: "ewigkeit zerteilen / in dich und / in mich und / niemand anders / kommt um / uns zu heilen". Tom de Toys holt das ehemals Religiöse, das Heile und Heilige, ganz ins konkrete, diesseitige Leben, er zersetzt geradezu jegliche Hoffnung auf Überirdisches und bietet als philosophische Alternative einen "radikalen Kontaktismus", der sich wie eine anti-esoterische mystische Erfahrung anfühlt: "alles ist / (bis in die kleinsten feinheiten / vorhanden die wahrheit / erstreckt sich von einem / ende der unendlichkeit / zum anderen und / nennt sich) / das ganze". So geht das Kurzgedicht WELT (RADIKALER KONTAKTISMUS) von 2015. Es wird also behauptet, "alles" sei "das ganze". In gewisser Weise hat dieses vorletzte Gedicht dieselbe Botschaft wie jenes, mit dem nicht nur der Gedichtband anfängt, sondern das auch den Anfang der Poetologie einer "direkten Dichtung" markiert, die dem Autor so sehr am Herzen liegt: in KONTAKT heißt es schon 1989 "zwischen zwei körnern / staub / schritte im meer". Hier der Staub, dort die kleinsten Feinheiten. Damals sind es zwei Körner, jetzt sind es die beiden Enden der Unendlichkeit. Das sind für mich Variationen derselben atheistischen Welt-Definition "alles ist ... das ganze", denn das Meer ist ebenfalls eine Metapher für das Ganze.
1997 konnte man in der F.A.Z. über Tom De Toys lesen: "Der Bewußtseinspionier möchte mit seiner Kunst jede Art von Religion überwinden." Diesen Wunsch hat sich der Autor anscheinend im Laufe der Jahre immer präziser erfüllt und präsentiert deshalb mit seinem NEUROATHEISMUS eine Art Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse auf dem Weg in ein transreligiöses Leben, das in den Nerven gefühlt werden will.
|
Pier Zellin - 21. August 2015 ID 8821
Tom De Toys | NEUROATHEISMUS
21 transreligiöse Gedichte 1989-2015
Paperback, 28 Seiten
EUR 8,00
Verlag Books on Demand, 2015
ISBN 978-3-7386-3322-1
Weitere Infos siehe auch: http://www.bod.de/buch/tom-de-toys/neuroatheismus/9783738633221.html
Unser Gastautor Pier Zellin, geb. 9.9.1974 in Berlin, lebt nach einer mehrjährigen Weltreise auf den Spuren der "New-Age-Bewegung" (Stationen u.a. Esalen-Institut, Findhorn und Auroville) wieder im Berliner Bezirk Neukölln, studierte vorher Religionswissenschaften und Germanistik in Göttingen. Als Kind eines Gurus lernte er schon früh den "Zirkus um die Erleuchtung" in der Spiriszene kennen und wurde selber gezwungen zu meditieren. Seit 2014 lektoriert er als Pressesprecher des Autorenkollektivs "Liga der Leeren" (LDL) deren Manifeste für die Homepage URRUHE.de und betreut den dazugehörigen Twitter-Account und die Facebook-Fanseite.
|
|
|
Anzeige:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
AUTORENLESUNGEN
BUCHKRITIKEN
DEBATTEN
ETYMOLOGISCHES von Professor Gutknecht
INTERVIEWS
KURZGESCHICHTEN- WETTBEWERB [Archiv]
LESEN IM URLAUB
PORTRÄTS Autoren, Bibliotheken, Verlage
UNSERE NEUE GESCHICHTE
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|