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Etymologie

Schnorrergeschichten

und spielerische

Irrealitäten

Kategorien jüdischer Witze


Polnische Schnorrer in Leipzig | Bildquelle: Die Gartenlaube (1875)


Im Jahre 1960 publizierte die Schweizer Schriftstellerin und Journalistin Salcia Landmann (1911-2002) in Freiburg das Buch Der jüdische Witz, das der Schriftsteller und Kritiker Friedrich Torberg (1908-1979) im Oktober 1961 in einem Aufsatz der Zeitschrift Der Monat einen "beunruhi-genden Bestseller" nannte - in seiner vernichtenden Rezension mit dem Titel: Wai geschrien! oder: Salcia Landmann ermordet den jüdischen Witz. Torberg warf der Verfasserin vor, eine Sammlung schlechter, weder spezifischer noch verbürgter, noch jüdischer Witze angelegt und diese bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt zu haben.


Literarische Replik


Im Jahre 1971 erschien in Berlin ein Buch, das leider - wie es oft mit guten Werken geschieht - keinen großen Bekanntheitsgrad erreichte. Dabei ist es die faszinierend geschriebene Replik auf das Landmannsche Buch. Es stammt vom deutsch-amerikanischen Komponisten, Dirigenten, Pianisten und Schriftsteller Jan Meyerowitz und heißt Der echte jüdische Witz.

Der Autor betont, dass das talmudische Denken ein Schlüssel zum tieferen Verständnis des jüdischen Witzes sei: "Keine andere orthodoxe Religion zeigt so viel Verständnis für die natürlichen Notwendigkeiten des Lebens, und es ist die eigentliche Aufgabe des Talmud, Leben und Gesetz in gleichberechtigten Einklang zu bringen. Diese Humanisierung des Gesetzes ist das Hauptthema der jüdischen Gesetzesinterpretation. Die humoristische Übertreibung jener Humanisierungsversuche ist das Prinzip des jüdischen Witzes". Ein Beispiel: Ein Jude steht vor einem christlichen Fleischerladen und betrachtet ihm verbotenen Schinken. Schließlich läuft ihm doch das Wasser im Munde zusammen; er geht hinein und erfragt den Preis, worauf in nächster Nähe ein schrecklicher Donnerschlag ertönt. Der Jude dreht sich um und sagt in Richtung der atmosphärischen Störung: "Mer darf doch noch fragen?!"

Das Spannungsverhältnis zwischen katholischer Kirche und jüdischer Religion ist fast so alt wie das Christentum selbst. Ein Kurzdialog verdeutlicht, wer hier wem rhetorisch den Spiegel vorhält: Priester: "Wann geben Sie endlich diese blöden Speisege-setze auf?" - Rabbi: "Am Tag Ihrer Vermählung, Euer Exzellenz."


Schnorrergeschichten


Eine weitere Kategorie jüdischer Witze umreißt der Übersetzer und Journalist Siegfried Schmitz im äußerst informativen Nachwort zu der von ihm und dem Gemanisten Max Präger 1927 als Jüdische Schwänke edierten volkskundlichen Sammlung: "Zur äußeren Charakteristik des jüdischen Witzes sind die eigenartigen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der jüdischen Masse im Osten heranzuziehen ... (Es) sei bemerkt, dass es im jüdischen Volkswitz unendlich viele Schnorrergeschichten gibt, weil eben die große wirtschaftliche Not unendlich viele Varietäten des Bettelns hervorgebracht hat und weil in der jüdischen Anschauung die Pflicht, den Armen zu beschenken, eine große Rolle spielt."

In seinem Aufsatz The Gift of Alms hat Samuel C. Heilman, der sich auf die soziale Ethnographie zeitgenössischer jüdisch-orthodoxer Bewegungen konzentriert, 1975 in der Zeitschrift Urban Life and Culture verschiedene Bettel-Arten unter orthodoxen Juden soziologisch untersucht. Ein klassischer Witz dazu lautet: Zwei Brüder erhalten regelmäßig von Rothschild eine Unterstützung von 100 Mark. Einer der Brüder stirbt, der andere kommt und will 200 Mark kassieren. "Nein", sagt der Baron, "Ihr Herr Bruder ist verstorben, Sie erhalten 100 Mark." - "Wer ist der Erbe? Ich oder Sie, Herr Baron?!"

Amerikanisches Duell: Dass viele jüdische Witze in für Juden unzugänglichen Welten spielen, wertet Jan Meyerowitz als "spielerische Irrealität". Unter Juden gibt es z.B. keine ritualisierten Duelle, gleichwohl gibt es dazu etliche Witze. Man amüsiert sich über die Vorstellung, wie die jüdische Mentalität auf solchen Ehrenhandel reagieren würde: Ein Jude und ein Christ haben einen Ehrenhandel, der durch ein sogenanntes amerikanisches Duell gesühnt werden muss. Diese Art Duell besteht darin, dass die Duellanten aus einer Urne eine weiße und eine schwarze Kugel ziehen müssen; wer die schwarze zieht, muss sich zurückziehen und sich erschießen. Der Jude zieht die schwarze Kugel, geht ins Nebenzimmer, man hört einen Schuss. Alles betet erschüttert, als sich die Türe wieder öffnet. Der Jude steht strahlend da und sagt: "Freut Euch meines Glückes, ich habe mich nicht getroffen!"
Christoph Gutknecht - 29. Mai 2020
ID 12268

Post an Prof. Dr. Christoph Gutknecht

https://www.slm.uni-hamburg.de/iaa/personen/ehemalige-emeriti/gutknecht-christoph.html

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