GERHARD
RÜHM (90)
Wider die Geschwätzigkeit
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Gerhard Rühm (2015) | Foto (C) Franz Johann Morgenbesser; Bildquelle: Wikipedia
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Das Missverständnis ist hartnäckig. Literatur sei, was sich nacherzählen lässt, was sich unbeschadet in andere Medien übertragen lasse. Woche für Woche suggerieren Buchbesprechungen, dass es auf den Inhalt ankomme, dass die Form nur Beiwerk sei. Die Einsicht, dass Literatur Sprachkunst sei und nur sie, die Sprache, Literatur erst konstituiere, hat sich nicht durchgesetzt. Chlebnikov und Schwitters, Perec und Pastior kommen in der öffentlichen Wahrnehmung gegen Böll und Grass, gegen Rowling und Stephen King nicht an.
Einer der wenigen „Dogmatiker“ der Sprachkunst unter den lebenden Schriftstellern ist Gerhard Rühm. Der Österreicher ist, was man eine Mehrfachbegabung nennt. Er arbeitet nicht nur mit dem Material der Dichtung, mit der natürlichen Sprache, sondern, als Komponist, auch mit Tönen und als Grafiker mit Linien und Flächen. Mag sein, dass die intensive Beschäftigung mit Musik, die ja nur in sehr eingeschränktem Ausmaß über eine Semantik verfügt, Rühms Literaturauffassung geprägt hat, und es versteht sich, dass er auch auf diesem Gebiet eine Vorliebe hat für konstruktivistische Tendenzen. Sein Lehrer war Josef Matthias Hauer, der schon vor Schönberg eine Zwölftonmusik-Theorie entwarf. In den von Rühm in seiner Dichtung angewandten kombinatorischen Verfahren kann man mühelos starke Ähnlichkeiten zu Techniken der Minimal Music ausmachen.
Im Übrigen ist es ein Missverständnis, wenn man derlei Kunst für unpolitisch hält. Nur setzen Autoren, die so arbeiten, nicht auf die unmittelbare politische Aussage, sondern auf das politische Potential rationalen Denkens. Das kann ausgesprochen unterhaltsam sein. Das Spiel ist Rühms Dichtung verwandter als die Botschaft. Die lautliche Seite der Sprache ist ihr nicht weniger wichtig als die semantische und pragmatische. Sie verweist stets weniger auf eine außersprachliche Wirklichkeit als auf sich selbst.
Gerhard Rühm ist einer der Grand Old Men jener Kunstrichtung, die man mangels eines besseren Begriffs „Konkrete Poesie“ nennt. Aber diese Zuordnung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er für die österreichische Literatur im besonderen und die deutschsprachige Literatur nach 1945 im allgemeinen eine erheblichere Rolle spielt als viele medienkonforme „Entdeckungen“, die man schon vergessen wird, ehe die Saison vorüber ist. Wenn man gelegentlich den Eindruck gewinnen konnte, die „Konkrete Poesie“ sei in eine Sackgasse geraten und habe sich erschöpft, so kann Rühm stets aufs Neue überzeugend nachweisen, dass eine Poesie, die sich nicht auf Inspiration und die tautologische Vermittlung von „Erkenntnissen“ verlässt, sondern spielerisch auf der Grundlage erdachter und definierter Regeln hergestellt wird, darin der einer normativen Poetik folgenden Barocklyrik durchaus vergleichbar, tendenziell unendlich viele Varianten zulässt und ins 21. Jahrhundert hinüber gerettet werden konnte.
Das Vergnügen an Rühms Texten ist ein im engsten Sinne literarisches: es verdankt sich nicht dem (Wieder-)Erkennen von Realität, sondern den Mechanismen formaler Prozeduren. Und ganz nebenbei decouvriert Rühms Minimalismus einen großen Teil der aktuellen Erzählliteratur als geschwätzig und redundant. Ein spannendes Sujet hat die Eigenschaft, die Aufmerksamkeit des Rezipienten zu absorbieren und von der Machart abzulenken. Wo aber sujetlose Prosa oder Verse den Text bestimmen, ist Bluff nicht möglich. Mittelmaß wird als Mittelmaß erkennbar, sprachliche Banalität als sprachliche Banalität.
Heute [12. Februar 2020] wird Gerhard Rühm 90 Jahre alt. Salut und alles Gute für die nächsten Jahrzehnte!
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Thomas Rothschild – 12. Februar 2020 ID 11997
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