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Der mährische

Surrealist


LUDVÍK KUNDERA


Ludvík Kundera (1920-2010) | Bildquelle: mzm.cz


Milan Kundera kennt jeder, der sich für zeitgenössische Literatur interessiert und über den deutschsprachigen Tellerrand hinausschaut. Ludvík Kundera dürfte hierzulande eher unbekannt sein. Er ist der Cousin von Milan Kundera und darf nicht mit dessen Vater verwechselt werden, dem Janáček-Forscher, der ebenfalls den Vornamen Ludvík trägt. Der Ludvík Kundera, von dem hier die Rede sein soll, wurde in Brünn geboren und ist vor zehn Jahren, neunzigjährig, in Südmähren gestorben. Er hatte, weit mehr als Milan Kundera, eine enge Bindung zur deutschsprachigen Literatur und zu deutschsprachigen Autoren. Er hat unter anderem Goethe und Schiller, Heine und Büchner, Rilke und Trakl, Benn und Brecht, Seghers und Böll, Celan und Huchel ins Tschechische übertragen. Er hat auch vom Tschechischen ins Deutsche übersetzt, unter anderem, zusammen mit seinem eigenen Übersetzer Eduard Schreiber, Szenen des Befreiten Theaters von Voskovec & Werich, das es bei uns immer noch zu entdecken gilt. Schriftstellerisch im engeren Sinne ist Kundera als Erzähler, als Dramatiker und Hörspielautor, als Essayist, vor allem aber als Lyriker hervorgetreten, und zwar schon seit seiner frühen Jugend, also seit den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg. Mit erstaunlicher Konsequenz ist er einer Schreibweise treu geblieben, die man dem Surrealismus und seinen Spielarten zurechnen darf. Seine Bibliographie umfasst mehrere Dutzend Titel, eigene Werke, Übersetzungen, auch aus romanischen und slavischen Sprachen, auch als Herausgeber hat er mehrere Bücher vorgelegt.

Die bewegte Geschichte Europas und Tschechiens im zwanzigsten Jahrhundert spiegelt sich auch in Kunderas Leben wider. Nachdem er Germanistik und Bohemistik in Prag und Brünn studiert hatte, wurde er 1943 von den deutschen Okkupanten zur Zwangsarbeit nach Berlin verschickt, noch ehe er sein Studium beenden konnte. Zu seinen Freunden gehören außer zahlreichen tschechischen Dichtern und Malern eine ganze Reihe von Kollegen aus Deutschland. Ludvík Kundera hat in seiner Jugend Hans Arp und später auch Bertolt Brecht persönlich kennengelernt. Gerade das Treffen mit Arp dürfte auch für sein eigenes Schaffen von Bedeutung gewesen sein.

Kundera hat zahlreiche Preise erhalten. In seiner Heimat, die er aus persönlichen Gründen nie verlassen wollte, hatte er mehrmals Publikationsverbot. Obwohl gerade der Surrealismus und seine Vorläufer, wie der Poetismus, in der Tschechoslowakei eine lange, bei uns viel zu wenig bekannte Tradition hatten, fristete er in Zeiten der dogmatischen Verhärtung im Kulturbetrieb, zuletzt nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts im Jahr 1968, ein marginales, gefährdetes Dasein. Zeitweise konnte sich Kundera nur über Wasser halten, indem er unter Pseudonym übersetzte oder einen unverdächtigen Freund fand, der ihm für die Veröffentlichung seinen Namen lieh.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gründete Kundera zusammen mit anderen Dichtern und Malern die avantgardistische Gruppe Ra, deren Namen wortspielerisch in den Titel eines Gedichtzyklus einging, der für eine deutschsprachige Werkauswahl übernommen wurde: el do Ra Da(da). Kunderas Dichtung und auch seine Prosa ist dem Dadaismus durchaus verwandt, aber auch dem Werk von Apollinaire, Eluard oder Chlebnikov, die Kundera übersetzt hat. Für den hiesigen Leser schwerer zu entschlüsseln sind die Einflüsse tschechischer Dichter wie Vítězslav Nezval oder František Halas oder des großen tschechischen Theoretikers Karel Teige. Schon in einem Aufsatz über die Gruppe Ra aus dem Jahr 1948, als viele junge Dichter noch Hoffnungen mit der neu gegründeten ČSSR verbanden, erklärte Kundera: „Der große und heute häufig so diskreditierte Gedanke des Internationalismus, dieses stärksten Bindemittels aller Menschen ohne Unterschied der Rasse, Sprache und Grenzen, wird durch die Gruppe Ra in Form beständiger Koordinierung ihrer Arbeiten mit denen der Künstler anderer Länder, durch praktische Zusammenarbeit verwirklicht.“

Die Traumlogik, die den Surrealismus kennzeichnet und ihn für psychoanalytische Deutungen so fruchtbar macht, bestimmt auch Ludvík Kunderas Gedichte und einen Teil seiner erzählenden Prosa. Dort trifft aufeinander, was unvereinbar scheint. Die übliche Zeit- und Kausallogik ist in diesen Texten aufgehoben. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich Ludvík Kundera auch als bildender Künstler einen Namen gemacht hat.

Seinem Zyklus Träume von 1979 stellt Kundera ein Zitat von Vítězslav Nezval aus dem Jahr 1938 voran. Es scheint, über vier Jahrzehnte hinweg, für Kunderas Dichtung als Motto zu dienen:


„… Das dichterische Werk hat im Grunde genommen die Struktur des Traums, denn es ist ähnlich dem Traum – auf der Grundlage des Konflikts zwischen Wunsch und Bewusstseinszensur durch Verdichtung, Dramatisierung, Substitution und Verzerrung des erlebten Materials – aufgebaut.

Das dichterische Werk verwandelt unter Beihilfe eines ähnlichen Prozesses – der sogenannten Traumarbeit – die Wirklichkeit des Objektiven in die Wirklichkeit des Phantastischen – – –“



In einem Gedicht Kunderas wird Arletty angesprochen. Arletty ist das Pseudonym der Schauspielerin, die in Marcel Carnés Film Die Kinder des Olymp die faszinierende Garance verkörpert. Das Drehbuch zu den Kindern des Olymp schrieb Jacques Prévert. Von Prévert wiederum gibt es ein Gedicht mit dem Titel Inventaire, in dem Substantive scheinbar zusammenhanglos aneinandergereiht werden. Nur eine sich verändernde Anzahl von Waschbären taucht refrainartig immer wieder auf. An dieses Gedicht mag man auch denken, wenn man Ludvík Kunderas Gedichte liest.

Es ist bekannt, dass sich die Mitglieder der Wiener Gruppe, von denen H.C. Artmann der selben Generation angehörte wie Ludvík Kundera, intensiv mit der Literatur des Barock und des Expressionismus beschäftigt haben. So mag es von Interesse sein, dass Kundera in den neunziger Jahren in Brünn und Olomouc Vorlesungen gehalten hat über zeitgenössische Literatur, aber auch über den Expressionismus, den Dadaismus, den Barock und über die deutsche Romantik. Zu den Autoren, die er ausführlich vorstellte, gehörten Kleist, Heine, Grabbe, Lenau und Hölderlin, auch Büchner. Am Rande sei die Frage gestellt, wie viele deutsche oder österreichische Schriftsteller es gibt, die vergleichbare Kenntnisse über die tschechische Literatur vorweisen können. Was man hierzulande für das Zentrum und was man für die Peripherie der europäischen Kultur hält, geht sehr deutlich aus der Asymmetrie der literarischen Rezeption hervor. Dass Ludvík Kundera viel dazu beigetragen hat, seine Landsleute mit der deutschsprachigen Kultur vertraut zu machen, steht außer Frage. Es wäre jedoch mehr als nur ein Akt der Dankbarkeit, wenn man sich nachdrücklicher für das Werk derer interessierte, deren Dienste als Vermittler man gerne in Anspruch nimmt.

Heute wäre Ludvík Kundera 100 Jahre alt geworden.



Ludvík Kundera (Herbst 2009) | Foto: Vejvančický; Bildquelle Wikipedia

Thomas Rothschild – 22. März 2020
ID 12102
Weitere Infos siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Ludvík_Kundera


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