Uwe Timm
wird 80
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Uwe Timm auf der Frankfurter Buchmesse 2013 | Bildquelle: Wikipedia
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So stellt man sich nicht unbedingt die Laufbahn eines Schriftstellers vor. Uwe Timm absolvierte eine Kürschnerlehre, ehe er das Geschäft seines verstorbenen Vaters übernahm. 1963 machte er dann über den zweiten Bildungsweg das Abitur. Eine Freundschaft verband ihn mit Benno Ohnesorg. Erste Gedichte erschienen in der mit Ohnesorg herausgegebenen Zeitschrift teils-teils.
Timm studierte in München Germanistik und Philosophie, später auch Volkswirtschaft und Soziologie. Er war Mitglied des SDS, nahm wie viele seiner Generation an Aktivitäten innerhalb der Studentenbewegung teil. 1971 dissertierte er über den in diesen Tagen wieder populären Albert Camus.
Seit dem Ende seines Studiums lebt er als freier Schriftsteller. Zusammen mit Uwe Friesel, Richard Hey, Hannelies Taschau, später mit Gerd Fuchs und Heinar Kipphardt war er Herausgeber der AutorenEdition unter dem Dach des Bertelsmann Verlags. Er ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, des PEN und der Berliner Akademie der Künste. Er hat Poetikdozenturen in Paderborn, Bamberg, Lüneburg, Frankfurt und Tübingen übernommen und war Poet in Residence an mehreren englischen und amerikanischen Universitäten.
Mehrfach ausgezeichnet ist Uwe Timm ein politischer Schriftsteller geblieben, auch als das nicht mehr so sehr dem Zeitgeist entsprach. Sein Interesse für den Anarchismus hat in seinen Schriften deutliche Spuren hinterlassen.
Uwe Timm greift – darin Erich Hackl vergleichbar – gerne auf reale Menschen und dokumentarisches, auch autobiographisches Material zurück. Zur Literatur wird es vor allem durch die sprachliche Gestaltung, aber auch durch die Anreicherung mit fiktiven Elementen.
In der Laudatio anlässlich der Verleihung des Heinrich-Böll-Preises sagte Mathias Greffrath, Uwe Timm sei der Erzähler seiner Generation. Es gibt nur noch zwei Autoren, die die Epoche so kontinuierlich in literarischer Form dokumentiert haben. Der eine ist der österreichische Schriftsteller Peter Henisch, Jahrgang 1943, der andere der Liedermacher Franz Josef Degenhardt, Jahrgang 1931. Ihre Lebenserfahrungen sind wohl für die Jüngeren bereits historisch. Es gehört zu den Aufgaben der Literatur, sie zu bewahren.
Vor zehn Jahren veröffentlichte Uwe Timms Verlag Kiepenheuer & Witsch einen Band mit den autobiographischen Texten, die sich seit Ende der achtziger Jahre angesammelt hatten. Es sind die „Römischen Aufzeichnungen“ Vogel, friss die Feige nicht, die Erzählungen Am Beispiel meines Bruders und Der Freund und der Fremde sowie kürzere Auszüge aus drei weiteren Büchern. Es ist bemerkenswert, dass Uwe Timm über sich in Relation zu anderen, zu seinem Bruder, zu Benno Ohnesorg oder zu Heinar Kipphardt schreibt, oder umgekehrt: dass ihn erst das Nachdenken über Menschen, die ihm nahe standen, zwang, sich über seine eigene Position klar zu werden, also nicht so zu tun, als handelte es sich um Fiktion, bei der die Stellung des erzählenden Subjekts und des Autors zum Erzählten nicht unbedingt bestimmt werden muss.
Der Freund und der Fremde, 2005 als Einzelerzählung erschienen, handelt von Benno Ohnesorg, mit dem Uwe Timm eng befreundet war. Er ist aber durch seinen tragischen Tod und dessen Folgen unabhängig davon eine historische Figur geworden. Timm zitiert in der Erzählung Camus, der zu seinen und Ohnesorgs Lieblingsautoren gehörte, und reflektiert über ein Thema, das auch in seiner Dissertation eine Rolle spielte: über die Absurdität des Todes.
Uwe Timm schreibt, zum Zeitpunkt von Benno Ohnesorgs Tötung hätte die Sprache seine „hilflose Wut ins Deklamatorische“ verwandelt. Das könnte darauf hinweisen, dass man nach seiner Meinung Distanz gewinnen muss, um über erlebte Vorgänge schreiben zu können. Unmittelbare Zeitgenossenschaft erscheint in der Literatur schwierig.
Sowohl Am Beispiel meines Bruders wie Der Freund und der Fremde handeln von Menschen, die Timm nahe gestanden haben, von seinem älteren Bruder eben, der aber gestorben ist, als er noch sehr klein war, und von Benno Ohnesorg, den er als Jugendlicher kennen lernte. Von seinen politischen Ansichten her könnten diese Protagonisten kaum weiter von einander entfernt sein. Uwe Timms Bruder hatte sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet, für die der Autor gewiss keine Sympathie empfindet. Es ergibt sich das allgemeinere Problem: Wie geht man damit um, wenn ein Mensch, mit dem man sympathisieren möchte, weil man mit ihm verwandt ist, eine Haltung vertritt, die man ablehnt?
Es fällt auf, dass sich Uwe Timm in seinen Büchern, sofern sie von realen Personen handeln, vorwiegend mit Toten beschäftigt. Im Roman Halbschatten lässt er die Toten sogar sprechen. Sind ihm die Lebenden noch zu nah? Hat er Angst vor Klagen, wie sie Maxim Biller oder Alban Nikolai Herbst einstecken mussten? Oder ist es, wie bei Hackl, das Gefühl, dass man den Toten, die selbst nicht mehr aussagen können, ein Denkmal setzen müsse?
In den Poetikvorlesungen, die 1993 unter dem Titel Erzählen und kein Ende erschienen sind, plädiert Timm leidenschaftlich für eben das Erzählen. Dabei aber wird erkennbar, dass er im Lauf seines Lebens und seiner schriftstellerischen Tätigkeit aus verschiedenen Motiven und mit verschiedenen Absichten erzählt hat. Nachzulesen in den Romanen Heißer Sommer, Morenga, Kerbels Flucht, Der Mann auf dem Hochrad, Der Schlangenbaum, Johannisnacht, Rot, Halbschatten oder in der von Ulla Wagner mit Barbara Sukowa in der Hauptrolle verfilmten Novelle mit dem schönen Titel Die Entdeckung der Currywurst.
Thomas Brasch hat in einem Interview gesagt: „Der Faschismus ist so lange her wie eine Sekunde in meinem Leben. Wenn ich die Geschichte der Menschen ansehe – so lange ist er her. Eine Sekunde ist er her.“ Thomas Brasch war nur fünf Jahre jünger als Uwe Timm, aber dieser hat eine ganz andere Biographie als der jüdische Sohn eines DDR-Parteifunktionärs. Dennoch könnte man sich vorstellen, dass Timm sich diese Aussage von Brasch zueigen macht. In seinem Werk spielt die jüngste deutsche Geschichte eine zentrale Rolle, und er hat sogar eine schmale Broschüre über den Faschismus geschrieben. Offenkundig ist der Nationalsozialismus noch ein Thema für Schriftsteller. Er hat sich nicht, wie manche meinen, erschöpft oder gar erledigt.
Heute wird Uwe Timm achtzig. Wir gratulieren.
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Thomas Rothschild – 30. März 2020 ID 12126
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