ANDREAS
NOHL
Poe für das 21. Jahrhundert
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Buchcover des ersten Bandes der von Andreas Nohl neuübersetzten Werkausgabe der Unheimlichen Geschichten von Edgar Allan Poe
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Vor über 200 Jahren wurde der amerikanische Schriftsteller Edgar Allan Poe geboren. Seine Geschichten scheinen heute beliebter zu sein als damals, und seine Popularität steigt immer noch. Gerade ist eine neue Übersetzung erschienen: der erste Band, der kurz nach Poes Tod von Charles Baudelaire herausgegebenen Ausgabe, nun übersetzt von Andreas Nohl. Für die Poe-Fans ist dies Anlass zur hitzigen Diskussion, denn es gibt natürlich bereits eine Reihe von Übersetzungen. Manche der Poe-Liebhaber bleiben gerne den alten, traditionellen Texten verhaftet, andere rühmen die eher frei geratene Übersetzung des berühmten Übersetzerpaares Arno Schmidt und Hans Wollschläger. Im Rahmen der Leipziger Buchmesse wurde jetzt der erste Band der neuen Übersetzung vorgestellt, und Andreas Nohl stand für Fragen bereit. Am Stand von dtv traf ich den Übersetzer, Autor, Herausgeber und Kritiker, und mich interessierte zunächst, was für ihn der Grund für diese neue Übersetzung war. Er verwies mich [s. Interview] auf interessante Details...
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Andreas Nohl: Zunächst einmal unterscheidet sich unsere Ausgabe von den anderen dadurch, dass es sich hier um das Zusammentreffen von zwei großen Schriftstellern, Poe und Baudelaire, handelt, um eine Art literarische Kernfusion: denn mit Baudelaires Ausgabe ist Poe überhaupt erst wieder ins Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit geraten, nachdem er in den USA postum einer Art verleumderischer Kampagne zum Opfer gefallen war, so dass Baudelaire ja fragt: Gibt es denn in Amerika keine Verordnung, die den Hunden den Zutritt zum Friedhof versagt? Also mit dieser Ausgabe beginnt Poes Rezeption und Ruhm in Europa und von hier aus dann rückwirkend in den USA. Und mir war natürlich schon klar, dass ich Poe nicht als Autor des 18. oder gar 17. Jahrhunderts übersetzen will, sondern als moderneren Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Adorno nennt Poe ja einen „Leuchtturm der Moderne“. Ich finde das einleuchtend. Aber dann kann man Poe eben nicht so ins Deutsche transportieren, als ob es die stilistischen Fortschritte, die Goethe in die deutsche Prosa eingeführt hat, nicht gegeben hätte. Ich wollte jedenfalls Poe nicht so übersetzen, als ob er VOR Goethe geschrieben hätte. Das schien mir anachronistisch.
In Ihrer Übersetzung kommt Poe für mich sehr modern rüber, wie weit würden Sie sagen, darf der Übersetzer einen eigenen Zungenschlag in den Text hineinbringen oder wie weit soll er sich akribisch am Original orientieren?
A. N.: Ich würde sagen, er muss sich immer am Original orientieren. Sicher gibt es bei Poe Sätze, die klare Aussagesätze sind, die übersetzte ich dann eben auch als klare Aussagesätze. Ich benutze jedoch keine anachronistischen Begriffe, wie z.B. „Eiland“, das sind tendenziöse Eingriffe, die, wie ich finde, Poe nicht gut anstehen. Sie werden in meinem Buch zweifellos Geschichten finden, wo die ganze Verklausulierung, die Poe teilweise in seinen Texten hat, zu finden ist. Aber er verklausuliert ja nicht überall, und es ist überdies so, dass er in jeder Geschichte eine andere Stilebene hat. Das macht es übrigens auch ein bisschen mühsam, ihn zu übersetzen, weil man sich immer wieder neu auf die Texte einstellen muss, man ist nicht so in einer Sprachlogik drin oder in einer Stillogik. Poe hat den Stilbegriff in der modernen Literatur ein wenig überflüssig gemacht, weil: Wirklich moderne Autoren schreiben keinen Stil, sie schreiben eine Sprache, die dem Gegenstand, den sie beschreiben wollen, jeweils angemessen ist. Nun ist es aber so, dass das Deutsche als Grundsprache sowieso komplizierter ist, umständlicher ist als das Englische, so dass die Umständlichkeit von Poe teilweise schon im deutschen Satzbau gespiegelt wird. Hier habe ich mich nicht aufgerufen gefühlt, die Sache nochmals zu verkomplizieren, das fand ich sinnlos.
Es gibt ja nicht nur einen Originaltext von Poe, sondern verschiedene Originaltexte. Wie sind Sie damit umgegangen?
A. N.: Ja in der Tat; Poe hat seine Texte zunächst immer in Zeitschriften publiziert, und es gab dann Überarbeitungsschichten, die teilweise sehr umfangreich sind und teilweise wirklich in fast jeden Satz eingreifen. Ich habe die Standardausgabe genommen, die 1902 (glaube ich) gemacht wurde, das ist eine siebzehnbändige Ausgabe, und da werden hinten die ganzen Eingriffe, die Poe selber vorgenommen hat, dokumentiert. Da kann man auch sehen, wie skrupulös Poe selber mit seinen Texten umgegangen ist.
Baudelaire spielt in ihrer Werksausgabe und Ihrer Übersetzung eine große Rolle. Haben Sie auch mal die französische Ausgabe von ihm gelesen?
A. N.: Ich habe schon darauf geachtet, an bestimmten kritischen Punkten mich in der Übersetzung an Baudelaire zu orientieren. Ich kann Ihnen ein kleines Beispiel nennen. Eine Erzählung heißt ja The Goldbug, mit "Goldkäfer" übersetzt, bei Baudelaire heißt es Le Scarabée d´or, und ich habe es mit "Goldskarabäus" übersetzt, und das ist auch triftiger, weil der Skarabäus ein ganz spezifischer Käfer ist, während der Goldkäfer relativ ausdruckslos ist, wie ich finde.
Der erste Band der von Ihnen übersetzten Werksausgabe ist nun erschienen, was erhoffen Sie sich für das Ansehen von Edgar Allan Poe in der heutigen Zeit davon?
A. N.: Was ich mir wünsche, bezüglich meiner Ausgabe, ist vor allen Dingen, dass junge Leute den Drive bekommen, Poe wieder zu lesen, weil er eben nicht so verkünstelt in ein Altertum abgeschoben wird, sondern: das ist der Poe für das 21. Jahrhundert! Also, das ist mein Ziel gewesen, und das hat nichts damit zu tun, dass ich Poe verändere. Das ist alles glasklar Poe, nur die Stilrichtung ist eine andere. Ich mache ihn nicht älter als er ist, ich mach ihn im Zweifelsfall ein wenig jünger als er ist, aber insgesamt versuche ich ihn schon in seinem Raum zu belassen - wer diese Texte liest, wird in ihnen schon einen Schriftsteller der 19. Jahrhunderts entdecken.“
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Die Neuübersetzung erweitert das Angebot der deutschsprachigen Poe-Ausgaben. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Werken bemerkt in erster Linie der Poe-Liebhaber, ein „normaler“ Leser wird solche Differenzen vermutlich nur unterschwellig wahrnehmen. Positiv ist in jedem Fall anzumerken, dass das Angebot der Poe-Übersetzungen um eine neue, liebevoll in Angriff genommene Ausgabe erweitert wurde und Poe auch knapp 170 Jahre nach seinem Tod von sich reden macht. Die Bewertung einer Übersetzung unterliegt sicher neben objektiven Qualitätsmerkmalen auch ein Stück weit dem eigenen Geschmack. Nohls Übersetzung ist aus meiner Sicht gut lesbar und wenig verschnörkelt. Wem dies nicht gefällt, dem stehen die bisherigen Übersetzungen zur Verfügung, und der wahre Purist wird vermutlich ohnehin das englischsprachige Original lesen.
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Interviewerin: Ellen Norten - 1. Mai 2017 ID 9994
Edgar Allan Poe | Unheimliche Geschichten
Herausgegeben von Charles Baudelaire
Neu übersetzt von Andreas Nohl
424 S., bibliophile Ausstattung, transparenter Schutzumschlag, farbige Vorsatzpapiere und Zwischenblätter, Lesebändchen
dtv Literatur, 2017
EUR 28,00 (D), EUR 28,80 (A)
ISBN 978-3-423-28118-8
Weitere Infos siehe auch: https://www.dtv.de/buch/edgar-allan-poe-charles-baudelaire-unheimliche-geschichten-28118/
Post an Dr. Ellen Norten
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