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Interview

"Gebrochene Existenzen interessieren mich."

Im Gespräch mit der Autorin JULIANE BEER


Juliane Beer am 16. September in der Kantine im Berliner Ensemble | © Ansgar Skoda


Die Berlinerin Juliane Beer schreibt realistische, aufregende, selten vorhersehbare Prosa. Authentisch porträtiert sie in ihren Büchern meist auch die Bundeshauptstadt in ihrer Anonymität und schroffen Schönheit. In London machte Juliane Beer einen Abschluss als Wirtschaftsübersetzerin und arbeitete über 30 Jahre in diesem Beruf. Heute begreift sie sich vor allem als Schriftstellerin. Ansgar Skoda spricht mit der heute 51jährigen über ihren neuen Krimi Unvermeidbare Beeinflussung, ungerade Lebensläufe, den Reiz des Unheimlichen, Berlin, ihre Verlagsakquise und ihr politisches Engagement...

* * *


Wie kamst du zum Schreiben?

Juliane Beer:
Man weiß meist selber nicht so genau, wie man zum Schreiben kam. Ich bin ja eigentlich Wirtschaftsübersetzerin vom Beruf. Ja gut, da schreibt man auch. Da übersetzt man Wirtschaftsberichte oder geht zu Abendessen und übersetzt die Konversation am Tisch, wenn Geschäfte getätigt werden, oder man steht auf einer Messe und übersetzt für die Gäste oder KundInnen, die kommen. Es ist schon wirklich ein trockener Beruf. Vielleicht brauchte ich einen Ausgleich. Es ist wie bei Leuten, die malen oder musizieren. Irgendwann fängt man an.


Deine Romane wirken auf mich oft erfrischend experimentell. Creative Writing-Angebote oder Schreibkurse hast du nicht besucht?

J. B.:
Nein, ich bin absolute Autodidaktin. Ich finde, bei Creative Writing-AbsolventInnen klingen Texte immer wie Stipendiums-Prosa. Sie klingen immer sehr geschliffen. Das ist nichts für mich. Die Leute, die ich am liebsten lese, sind zumeist AutodidaktInnen.


In Berlin leben viele Autoren. Findest du hier Vorbilder?

J. B.:
Mit deutschen AutorInnen habe ich es nicht so. Ich finde, bei deutschen AutorInnen ist meist zu viel Nabelschau enthalten. Ich lese gern RussInnen, da kann man fast blind ins Buchregal greifen, und es ist gut. Zu den wenigen recht bekannten Berliner AutorInnen, die ich gerne lese, gehört Katja Lange-Müller.


Wie kommst du zu deinen Sujets? Wo findest du die Hintergründe für deine Prosa?

J. B.:
Ich finde gebrochene Existenzen interessant. Mich interessiert, wie Leute ihr Leben meistern ohne auf dieser früher noch vorgegebenen Erfolgslaufbahn Schule – Studium oder Ausbildung-Beruf durchs Leben zu kommen. Ich frage mich, wie es Leute schaffen, die diesen Weg ablehnen. Ich wohne seit 30 Jahren in Kreuzberg beziehungsweise Neukölln. Da begegnet man diesen gebrochenen Lebensläufen ganz verstärkt. Diese sogenannten verkrachten Existenzen prägten früher gerade die beiden Bezirke.


Berlin spielt in deinen Romanen stets eine große Rolle…

J. B.:
Mit Anfang zwanzig war ich das erste Mal in Berlin heimisch und bin es geblieben. Momentan gefällt mir die Stadt durch die Gentrifizierung nicht mehr so, aber man muss mal abwarten, wie es wird. Gut gefällt mir in Berlin nach wie vor die Anonymität. Hier geht alles, und da fühle ich mich total wohl mit. Eine Kleinstadt würde mich ersticken.




Nicht nur Juliane Beers Roman Eines Nachts habe ich einen Ausflug gemacht (2007) spielt in Berlin


Kürzlich musste ich wieder an deinen Schelmenroman Frau Doktor E. liebt die Abendsonne denken, als herauskam, dass die SPD-Bundestagsabgeordnete Petra Hinz ihren Jura-Abschluss, Abitur und ihren Lebenslauf gefaked hatte.

J. B.:
Dass Doktorarbeiten von Ghostwritern geschrieben werden, ist ja mittlerweile schon gang und gäbe. Aber dass eine Politikerin sich ihr Abiturzeugnis und ihren Studienabschluss selber ausschreibt, fand ich einfach enorm und super, weil ich dachte, so etwas machen sonst nur Männer. Zeugnisse interessieren ja heutzutage auch niemanden mehr. So kam ich ja auch auf meine Protagonistin, die sagte, jetzt ziehe ich als Ärztin los.


Jüngst erschien dein erster Krimi Unvermeidbare Beeinflussung? Warum nun das Genre des Kriminalromans?

J. B.:
Auch frühere Bücher hatten eine Krimi-Anlehnung, etwa sehr breit gefasst Arbeit kann zu einem langsamen und schmerzhaften Tod führen (2010) oder Frau Doktor E. liebt die Abendsonne (2015). Krimi-Fans würden mir jetzt sagen, nein, das war kein richtiger Krimi. Aber lange Rede kurzer Sinn, dies ist jetzt tatsächlich ein Krimi mit Kommissarin und allem Drum und Dran.


„Unvermeidbare Beeinflussung“ – wie kam es zum eher sperrigen Titel deines ersten Kriminalromans?

J. B.:
"Unvermeidbare Beeinflussung" ist ein Begriff aus der Quantenphysik. Er handelt davon, dass die kleinsten Teilchen sich anders bewegen, wenn sie von Menschen beobachtet werden. Dem Begriff zugrunde liegt ein Experiment mit einem Doppelschirm. Man schießt kleine Teilchen auf einen Schirm. Wenn ein Beobachter dabei ist, kommen sie anders an, als wenn kein Beobachter dabei ist. Man weiß nicht, woran das liegt. Die kleinsten Teilchen der Quantenphysik richten sich nicht nach Naturgesetzen. In meinem neuen Buch gibt es zwei Handlungsstränge parallel. Das sind für mich aufregende Themen, die ich auch privat mit Wonne lese.


In Unvermeidbare Beeinflussung fürchten sich die Bewohner eines Mehrfamilienhauses vor ihnen unerklärlichen Geräuschen auf dem Dachboden. Auch für die ermittelnden Kommissare oder die Leser wird das Haus zunehmend unheimlich. Wie kamst du zum Sujet dieses Romans?

J. B.:
Ich bin schon seit jeher großer Fan von Mystery-Geschichten. Ich mag Science-Fiction. Osteuropäische oder russische Science-Fiction – z.B. Stanislaw Lem oder in Russland die Gebrüder Strugatzki schreiben phantastische Geschichten. Phantastik ist dabei etwas anderes als Fantasy. Fantasy ist eher das Märchenhafte, Phantastik dagegen spielt in der Realität, doch ein Naturgesetz gerät plötzlich aus der Bahn. Alles, was sich darauf aufbaut, ist Phantastik. Da hat man in Russland und Osteuropa ein Händchen für. Ich bin wie gesagt sowieso ein großer Fan der russischen Literatur und besonders der phantastischen. Bei einem guten Phantastik-Roman muss jeder Satz sitzen und die Handlung vorantreiben. Kein Platz für Nabelschau. Auch verwinkelte, alte Häuser und Dachböden haben mich schon immer fasziniert. Vor ein paar Jahren las ich den sehr gehypten Phantastikroman Das Haus/ House of Leaves (2000) vom US-amerikanischen Schriftsteller Mark Z. Danielewski. Eigentlich mag ich amerikanische Literatur eher nicht, aber dieses Buch hat mich in Teilen gefesselt. Ein Strang der Handlung spielt in einem Haus, in dem die Hausbewohner plötzlich Türen und Gänge und Räume dahinter entdecken, die zuvor nicht da waren. Der zweite Strang, der vom rätselhaften Fund eines New Yorker Junkies handelt, war anstrengend zu lesen und hat mich dann raus gebracht. Ich konnte keine Verbindung zum ersten Strang herstellen. Aber der Roman hat mich dennoch nachhaltig inspiriert. Atmosphärisch eine Spannung zu erzeugen, war mir bei Unvermeidliche Beeinflussung sehr wichtig.


Ja, durch Räume kann man auch Atmosphäre und Spannung erzeugen. Wir sitzen gerade in der Kantine des Berliner Ensembles. Deine nächste Lesung aus Unvermeidliche Beeinflussung ist am 16. Oktober in der Kneipe Poor and Literate in der Kopenhagener Straße 77…

J. B.:
Vor einem Jahr habe ich diese Kneipe im Prenzlauer Berg entdeckt. Ein Frauenpaar mietete sich die kleine Schusterei mit etwa 40 Quadratmetern. Sie haben sie umgebaut und eine Bühne und Bibliothek reingestellt. Hier machen sie alles Mögliche – Ausstellungen, Lesebühnen – da habe ich mittlerweile schon oft aus meinen letzten Büchern gelesen. Wenn 30 Besucher kommen, ist der Laden rappelvoll. Man sitzt da auf alten Autositzen oder Kinosesseln. Das einzige „ganz Normale“ dort ist ein Tresen und ein Schankhahn. Am 24. 11. lese ich dann nochmal aus Unvermeidbare Beeinflussung, und zwar im Buchladen Die Buchkönigin, Hobrechtstraße 65. Am 1. Dezember im Literaturhaus in Berlin zusammen mit anderen Autoren.




Juliane Beers Arbeit kann zu einem langsamen und schmerzhaften Tod führen erschien in der zweiten Auflage


Du veröffentlichst in der Regel bei eher kleineren Indie-Verlagen. Wie kommt es zu den Zusammenarbeiten?

J. B.:
Meine ersten beiden Werke Über den Fortgang der Dinge (2004, Geschichte über eine Frau, die allein und vergessen auf dem Dachboden eines Opernhauses lebt) und Eines Nachts habe ich einen Ausflug gemacht (2007, Geschichte über einen Lebenskünstler, der plötzlich zu Geld kommt und nicht weiß, was er damit anfangen soll), beide vergriffen, kamen bei einem winzig kleinen Verlag heraus – Zeter & Mordio, sogenannter Verlag für Nebenwelten aus Hannover. Durch Zufall lernte ich die Verlegerin kennen, die damals Poetry Slam-Texte verlegte. Ich habe sie einfach angeschrieben, ob sie einen Roman mit mir machen will. Schwieriger war es beim Manuskript von Arbeit kann zu einem langsamen und schmerzhaften Tod führen (2010). Das haben mir alle Verlage um die Ohren gehauen, mich teilweise sogar dafür beschimpft. Das Thema war damals offenbar noch ein Tabu. Es geht um eine Arbeitsvermittlerin beim Jobcenter, die Kundinnen über 45 betreut und diese "hoffnungslosen Fälle" davon abhalten will, schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen. Ein kleiner linker Verlag in Berlin, Edition Schwarzdruck, sagte dann, wir machen das. Dann wurde dieser Roman mein bisher erfolgreichstes Buch, ist heute in der 2. Auflage. Bei Schwarzdruck erschien auch Befreit das Geld! (2011), eine Jubiläumsschrift zum 20. Jahrestag der Geldbefreiung in Deutschland. Der Essay behandelt die Vision einer geldlosen Welt. Irgendwie kam das Finden eines Verlages immer durch Zufall zustande. Kreuzkölln Superprovsorium (2013) handelt von der Gentrifizierung in Berlin. Für dieses Buch kontaktierte ich den Frankfurter Verlag Michason & May, bei dem ich einmal für die Anthologie Der Baum brennt schon wieder (2012) eine Geschichte eingereicht hatte. Jetzt bin ich mit Frau Doktor E. liebt die Abendsonne (2015) und Unvermeidbare Beeinflussung (2016) bei Marta Press, einem feministischen Verlag in Hamburg. Da fühle ich mich rundherum wohl. Die Chemie stimmt einfach. Marta Press hat neben Belletristik ein feministisches Programm im Sachbuchbereich und veröffentlicht auch zur Gender Theorie und zur Holocaust-Forschung.


Politisch setzt du dich für ein bedingungsloses Grundeinkommen ein. Seit wann machst du das, und warum ist dir das wichtig?

J. B.:
Für ein weltweites bedingungsloses Grundeinkommen interessiere ich mich, seit ich 2009 zum ersten Mal davon hörte. Meiner Meinung nach ist es der einzige Weg, unsere heutigen Probleme zu lösen. Arbeit in der Produktion wird es durch immer mehr Computer und die Industrie 4.0 bald nicht mehr geben in dem Sinne, wie wir sie kennen. Und im Dienstleistungsbereich dürfen wir nicht zulassen, dass sich ein neues SklavInnentum entwickelt. Wir sind nämlich auf dem besten Weg dahin.


Weiterhin alles Gute und vielen Dank für das Interview!




Jubiläumsschrift Befreit das Geld! (2011) behandelt die Vision einer geldlosen Welt.


Interviewer: Ansgar Skoda - 5. Oktober 2016
ID 9603
Blog von Juliane Beer: https://ju3iane.wordpress.com


Post an Ansgar Skoda

http://www.ansgar-skoda.de

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