Schreiben gegen den Weltuntergang 2012 (Wettbewerbsbeitrag)
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BEKENNTNIS EINES IRREN
von M. Peter
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Propheten leben im Ausland. Das hat einen guten Grund: In ihrer Heimat gelten Propheten als Irre. Auch in der Heimat leben Propheten. Aber das sind Ausländer – oder Irre.
Stellen Sie sich Folgendes vor:
In einem Park nicht weit entfernt von meinem Haus spaziere ich. Da spricht mich eine Buche an:
„Spazieren sie gerne?“
„Ja, sehr.“
„Ich bitte Sie, genießen Sie es heute besonders! Morgen geht nämlich die Welt unter.“
Ich blicke die Buche irritiert an und spaziere weiter. Ich drehe mich noch einmal zu der Buche um und tippe mir an die Stirn. Den restlichen Tag bin ich verärgert: Mir wurde Zeit gestohlen – von einem Irren! Um elf lege ich mich schlafen – verärgert.
Um Mitternacht geht die Welt unter. Ich bekomme nichts davon mit.
Jetzt stellen Sie sich vor, mich hätte statt der Buche ein Ginko-Baum angesprochen.
Ich hätte den Ginko bestürzt angeblickt und wäre nachdenklich weiter spaziert. Dann hätte ich mich noch einmal zu dem Ginko umgedreht und ihn angelächelt. Ganz bewusst hätte ich mein Spazieren fortgesetzt bis Mitternacht. Dann wäre ich mit offenen Augen in das untergehende Morgen spaziert.
Lernen Sie daraus! Trifft man in der Heimat einen Irren, so lohnt die Frage: Könnte dieser ein verkannter Prophet sein?
Für einen Ausländer gilt natürlich dasselbe.
Stopp. Jetzt mal ehrlich, Sie sollten nicht alles glauben, was Sie lesen. Die zweite Vorstellung ist nämlich unmöglich. Wir kehren zurück an den Anfang.
Propheten leben im Ausland. Das hat einen guten Grund.
Stellen Sie sich Folgendes vor:
Ich bin ein Nichtprophet und liege allein in der Badewanne. Der Schaum formt ein Bild: Die Buchstaben „T“ und „L“ sowie einen Kreis mit einem Strich durch die Mitte. Ich überlege:
Bekanntermaßen ist der Kreis mit einem Strich durch die Mitte ein Zulu-Symbol für das Auseinanderbrechen der Erde. Bekanntermaßen ist „T“ der zwanzigste Buchstabe im Alphabet, bekanntermaßen ist „L“ der zwölfte Buchstabe im Alphabet.
Ich schreie die Prophezeiung hinaus in die Einsamkeit meines Bades: „Die Erde bricht auseinander, 20, 12.“
Jetzt stellen Sie sich vor, ich hätte diese Zeichen im Meerschaum gesehen – an einem Strand. Ich hätte mich ängstlich umgeschaut, hätte gemurmelt, dass die Erde vielleicht auseinander bräche, 20, 12. Ein Kind hätte mich angeblickt und die Stirn gerunzelt.
Lernen Sie daraus! Hören sie am Strand jemanden murmeln, dann stopp. Jetzt mal ehrlich, Sie sollten nicht alles glauben, was Sie lesen. Markieren Sie lieber alle Leerzeichen im Text, dadurch erfahren Sie seine wahre Bedeutung. Sonst geht 2012 die Welt unter, das prophezeie ich Ihnen.
(C) M. Peter
Die 12 besten aller eingereichten Wettbewerbsbeiträge (alphabetische Reihenfolge):
Beckmann, Max - Ideen gegen den Untergang/Szenario 17b
Büschgens, Andrea - Zeitenwende
Friedrich, Silvia - Faschingsdienstag 2012
Kornberger, Ruth - Yoginis
Krapf, Joël - Weltuntergang ohne mich
Messerschmidt, Nadine - Weltpremiere
Oppermann, Swantje - Piet
Peter, M. - Bekenntnis eines Irren
Politgurke - Der Weltuntergang ist teilweise vorläufig (Finanzamt Köln-Ost)
Scharley, Melanie - Einfach vergessen
Siegenthaler, Brigitte - Die Botschaft
Wieland, Kai - Flight 19
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HOTSQUAT CALENDAR 2012 / Juni, Hexenverbrennungen / Les Chasses aux Sorcieres - Foto (C) Antal Thoma
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Kurzgeschichtenwettbewerb - 21. Juni 2012 ID 00000006045
HOTSQUAT CALENDAR 2012
HERAUSGEBERIN / EDITEUR: HotSquat Collectif / Wydenauweg 40 / 2503 BielBienne / http://www.hotsquat.ch / calendar@hotsquat.ch / PC 12-172563-8
ALLE FOTOGRAFIEN BY: by Antal Thoma / http://www.antalthoma.ch
CONCEPT ET REGIE: HotSquat Collectif et les lieux accueillants / und die Gastorte
GRAPHIK: Johan Katz / http://www.mkkm.name
EDITION: 1500 ex.
PRIX: 30.-
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Die Leute vom HOTSQUAT CALENDAR 2012 machen je 1 Exemplar ihres Kalenders den Autoren der 12 besten aller eingereichten Wettbewerbsbeiträge zum Geschenk.
KULTURA-EXTRA bedankt sich für das Sponsoring!
Weitere Infos siehe auch: http://www.kultura-extra.de/literatur/literatur/weltuntergang.php
Zur Auswertung des Kurzgeschichtenwettbewerbs
Zur Anthologie:
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