Gewogen
und befunden
360 GRAMM - eine neue Zeitschrift aus Dresden
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Bewertung:
Mut hamseja, die jungen Leute… Allseits wird der Niedergang der Print-Medien beklagt und vorauseilend vollzogen, da gründen die eine Zeitschrift. Auf Papier, oder Totholz, wie der Digital-Schnösel sagt.
Dank startnext.com, wie man das heute halt so macht, hat man genug Kraut gefunden (bekanntlich ist mir kein Wortwitz zu blöd), um die ersten 360 GRAMM Papier - die ich allerdings nicht nachgewogen habe - dem in Dresden naheliegenden Thema „Provinz“ zu widmen. Der Gefahr der bloßen Nabelschau entgeht man dabei nicht immer, v.a. in der Mitte des Heftes sind einige belanglose und verzichtbare Texte enthalten. Dabei zeigt sich dann auch ein Problem des künftigen Periodikums: Es gibt offenbar (noch) keine klare Definition der Gruppe, für die man schreiben will und die knapp 5 Euro im Vierteljahr dafür übrig hat.
Die Mehrzahl der Artikel ist aber so, dass sie Interesse wecken und dieses dann meist auch befriedigen, der (leider zu kurze) Artikel über Ellen Demnitz-Schmidt zum Beispiel oder der gesamte Kulturbeutel. Neben lesenswerten Gastbeiträgen vom Soziologen Prof. Rehberg und vom Stadtschreiber Wawerzinek ist der redaktionelle Höhepunkt für mich der Bericht über die kläglichen Bemühungen von Dresden, sich neben Stralsund und Bamberg (um nur die aussichtslosesten Mitbewerber zu nennen) um den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt 2025 zu bewerben. Nun ist man sicher nicht nur an den Loschwitzer Hängen der Meinung, dass dieser Dresden qua Gründung ohnehin zustünde, aber die EU-Bürokratie vergibt ihn jedes Jahr neu, sogar zweifach, damit jedes Kaff mal drankommt im 21. Jahrhundert.
Im Artikel wird sehr schön das ganze Dilemma dieses bisher von Tristesse und Einfallslosigkeit geprägten Versuchs deutlich, das in der Aussage gipfelt, dass es ja besser werden müsse, wenn es nicht mehr schlimmer ginge. Nur ist die Peinlichkeitsskala leider nach unten offen… Nicht dass wir uns falsch verstehen: Ich bin unbedingt der Meinung, dass „wir“ uns bewerben sollten, möchte die Kampagne nur gern unter das Motto „Schöner Scheitern“ stellen.
Doch zurück zu dem knapp dreiviertel Pfund: Der zweite als Kern empfundene Artikel des Hefts, jener zur erstaunlichen Gebärfreudigkeit im Städele, fällt leider durch ein kaum dokumentiertes Zahlengewitter und das Zitieren von nicht weiter benannten Studien (vom Focus, soso) etwas ab im Niveau, das Aufschreiben von Nachbars Meinung allein gibt noch keine Substanz, es wirkt alles ein wenig zurechtgebogen.
Unbedingt lesenswert ist jedoch die Titelstory, und nicht nur diese ist extrem gut bebildert, was man von der Fotostrecke im hinteren Heftteil nur bedingt sagen kann: Da steht Großartiges wie Der erste Schnee neben einigem Banalen. Für die Provinz fand man aber auf dem Titelbild des Heftes mit der traurigen Gangway von „Dresden International“ (ja, so heißt unser Landeplatz wirklich) eine hübsche Allegorie. In Dresden sind wir eben alle weltberühmt.
Feine kleine Artikel wie jene zur Augustusbrücke, der Ausflugstipp ins Vogtland oder die gezeichnete Theaterkritik und der ausklappbare hintere Einband mit einer Dresden-Karte der musikalischen Art runden das Heft ab. Auch jener zur Gentrifizierung gehört dazu, selbst wenn in ihm der folgende grandios misslungene Satz zu finden ist: “Wir haben gegenseitig unsere Kinder vom Kindergarten abgeholt, gegrillt, auf kleine Wehwehchen gepustet und bei größeren mitgebangt.“ Man fragt sich unwillkürlich, ob Brandwunden nun zu den kleinen oder großen Kümmernissen gehören.
Über Unter Muttis MuFuTi lässt sich leider nur sagen, dass er die dem Heft fehlende Prise Humor nicht zusteuert wie er sollte. Biedenkopf ist Achtziger bzw. in diesem Falle Neunziger, und das soll er bitte auch bleiben.
Trotzdem: Ein gelungenes Experiment, dem ein langer Atem zu wünschen ist. Das zweite (bzw. nächste) Heft ist immer das Schwerste, aber es lohnt den Versuch. Nicht nur, weil es sich so bezaubernd anfasst.
Alles außer anfassen kann man übrigens unter u.g. URL.
Dort gibt es auch eine Liste der Verkaufsstellen.
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Sandro Zimmermann - 11. Dezember 2016 ID 9742
Weitere Infos siehe auch: http://www.360gramm.de
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