Zwischen
den Stühlen
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Bewertung:
Nichts ist zu abwegig, um nicht erprobt und ausprobiert zu werden. Die Charaktere in Miranda Julys Erzählband Zehn Wahrheiten (Original: No One Belongs Here More Than You, 2007) sind gewohnheitsmäßige Einzelkämpfer. Sie scheinen stets auf der Suche. Mutig und manchmal auch verzweifelt spüren sie ihrem persönlichen Lebenssinn nach, forschen nach ihrem Savoir-vivre, dem Traumpartner oder einer erfüllenden Tätigkeit. Dabei begegnen sie anderen Charakteren in Strickkursen, als Statisten einer Fernsehproduktion oder bei Selbsterfahrungsseminaren. Oft müssen sie eigene Hemmnisse überwinden, um offen für gemeinschaftliche Erlebnisse zu sein. So findet die Ich-Erzählerin der Short Story Es war Romantik ihre vorherige Partnerin beim Atemdialog, Theresa, plötzlich auf dem Flurboden neben einem Stuhl sitzend wieder. Behände möchte sie diese aufgewühlte neue Bekanntschaft nun trösten:
"Aber wir kennen das alle. Stühle sind für Personen gemacht, und du bist dir auf einmal nicht sicher, ob du dich dazuzählen kannst. Ich kniete neben ihr nieder. Ich strich ihr über den Rücken, und hörte dann wieder auf, weil ich dachte, es könnte zu vertraulich wirken. Das wiederum schien mir zu abweisend, also tätschelte ich ihre Schulter, was bedeutete, dass ich sie nur ein Drittel der Zeit tatsächlich berührte. Die anderen zwei Drittel bewegte sich meine Hand entweder zu ihr hin oder von ihr weg. Je länger ich tätschelte, desto anstrengender wurde es; ich war mir der Intervalle zwischen den Klapsen zu bewusst und fand nicht zu einem natürlichen Rhythmus. Es kam mir vor, als würde ich eine Conga schlagen, und kaum war mir dieser Gedanke gekommen, musste ich einen kleinen Cha-Cha-Cha trommeln, und Theresa fing an zu weinen.“ (S. 70)
Die unterschiedlich langen Storys spielen meist nicht nur an ungewöhnlichen Schauplätzen, sie eröffnen auch ungewöhnliche Blickwinkel und Perspektiven. Sie handeln von unvorhergesehenen Begegnungen auf der Straße, sexuellen Vorlieben und Sehnsüchten, von gewohnter und doch manchmal plötzlich durchbrochener Einsamkeit. Unverklemmt werden neue Jobs, Drogen oder Sexualpartner ausprobiert. Gedanken und Assoziationen erscheinen erst skurril, dann jedoch, genauer betrachtet, gar nicht so abwegig. Vermeintlich tragische Schicksale eröffnen ungewöhnliche Lebenswege und Perspektiven. Spannung erzeugen Neubewertungen des erzählten Geschehens, wenn etwa die Ich-Erzählerin in Etwas, das nichts braucht ihre kurzzeitige räumliche Trennung von ihren Freundinnen Pips und Tammy nach dem Gang ins Badezimmer plötzlich als wiedergewonnene Freiheit zelebriert:
"Die puderzarte Wärme des Badezimmers machte mich euphorisch. Allein zu sein, wirkte plötzlich abenteuerlich. Ich verriegelte die Tür und vollführte eine Reihe unwillkürlicher, barocker Gesten vor dem Spiegel. Ich winkte mir selbst zu wie eine Irre und schnitt abscheuliche, unsympathische Fratzen. Ich wusch meine Hände, als wären sie kleine Kinder, sanft wiegte ich erst die eine, dann die andere. Ich erlebte einen schweren Anfall von Individualität. Die wissenschaftliche Bezeichnung für solche Spasmen ist 'Schwanengesang'.“ (S. 83)
Nicht nur in dieser mit Abstand längsten Geschichte des Bandes spielen lesbisches Begehren, Begegnungen und Beziehungen mit unterschiedlichen Hierarchieebenen eine Rolle – vielleicht bahnte sich hier bereits das Sujet für das 2015 erschienene, höchst unterhaltsame Romandebüt der Autorin, Filmemacherin und Independent-Künstlerin July (Der erste fiese Typ) an.
Der aus dem amerikanischen Englisch von Clara Drechsler und Harald Hellmann übersetzte Erzählband erschien bereits 2008 im Diogenes Verlag. Für die deutsche Übersetzung ihres Romans Der erste fiese Typ wählte Miranda July dann jedoch den Kiepenheuer & Witsch Verlag.
Nachdem Der erste fiese Typ sich als Verkaufserfolg herausstellte, wurde die Übersetzung von Zehn Wahrheiten im vorigen Jahr bei Kiepenheuer & Witsch neu aufgelegt. Keine schlechte Idee, denn bis auf wenige im Buch enthaltene eher schwache Short Storys - wie Die Fingerübungen oder Geschichtenerzählen für Kinder - laden die meisten Erzählungen pointiert und abwechslungsreich zum vergnügten Nachdenken über den (Un-)sinn des Lebens ein.
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Ansgar Skoda - 21. Juni 2017 ID 10097
Miranda July | Zehn Wahrheiten
Storys
Tb. m. Broschur, 224 S.
EUR 9,90
Kiepenheuer & Witsch Verlag, 2016
ISBN 9783462047691
Weitere Infos siehe auch: http://www.kiwi-verlag.de/buch/zehn-wahrheiten/978-3-462-04769-1/
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