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Gelenkbusse vor Lamellen

Clemens Meyer erzählt in der Berliner Backfabrik von Fickfröschen im Sachsensumpf, die niemand zu Prinzen küssen kann


Das ist Clemens Meyer - Foto (C) Stefan Bock



Berlin ist voller aufgelassener Back- und Brotfabriken und umgewidmeter Brauereien. Die Relikte des Industriezeitalters reisen als museale Areale mit kulturellen Latifundien und anderen Ausstellungsstücken im Raumschiff Gegenwart zu den Sternen. In der Backfabrik an der Saarbrücker Straße spielen Studenten Oktoberfest im Prenzlauer Berg. BDM-Zopfkranz zum Dirndl ist nicht Fasching zur falschen Jahreszeit, sondern ursprüngliches Brauchtum in degoutanter Fremde. Arbeiter fühlen sich von ihren Baustellen zu den Studenten hingezogen und erfreuen sich an einem Gespräch über Bier. Der Alkohol summt sein Lied von der Liebe, alle sind willkommen. Ein fadenscheiniger Flohmarkt-Entrepreneur rückt in den Mittelpunkt leutseligen Geschehens. Eine Frage im Augenblick könnte lauten: Geht man denn zugrunde, geht man dann den Dingen auf den Grund oder bloß auf den Leim?

Wählen wir zum Beispiel Intimrasur. Da rasiert sich eine „Dienstleisterin“ ständig, um zu erkennen, wie sich etwas auswirkt. Nämlich wie sich das auswirkt, wenn man einem Schönheitsideal verpflichtet ist, das an der Natur vorbei läuft. Man kriegt Pickel, die Haut zeigt sich gereizt.

Von wegen Jena Paradies. (So heißt eine Station der DB, vormals Reichsbahn.) Das erzählende Ich ist aus Jena gebürtig, und so lange es da war, wünschte es sich einen Jungen zum Sohn. In der großen Stadt ohne Namen, in der Clemens Meyers neuer Roman Im Stein seine Geschichten (wie in trüben Teichen) ausbrütet, will es ein Mädchen.

Im Stein lässt Meyer Milieugestalter zu Wort kommen. Seine inneren Monologe erinnern an die Moderne in der Schreibweise von James Joyce. Meyer spricht nahe des oktoberfestlichen Abklatsches vor einer tiefliegenden Anlegestelle der Backfabrik vom „Bewusstseinsstrom der Stadt“. Die Nacht taucht in der Stadt („mit ihren Gelenkbussen“) um 16.35 Uhr hinter Lamellen auf. Mit den Gliedern der Lamellen spielt die Dienstleisterin „auf Arbeit“. Sie teilt sich ihre Wirkungsstätte mit der fülligen Jenny. „Jede hat ihr Publikum ... und heilig ist das Wochenende.“

*

„Das geht jetzt immer so weiter“, sagt Clemens Meyer in der Katakombe seines Auftritts. Er wirkt wie ein zum Vortrag Verurteilter. Im Stein „schieben Menschen schweigend ihr Schicksal vor sich her.“ Auch sie sind Verurteilte. Ein Taxifahrer löst die „Dienstleisterin“ in der Erzählung ab. Er weiß: „Die Züge rattern heutzutage anders“ als in einem nebulösen Damals. Während die Seen am Stadtrand langsam verdunsten.

Leipzig wird beschrieben, aber nicht erwähnt. Die Fixer machen sich dünn bei achtunddreißig Grad, und Crystal Meth regiert die Stadt. Die Zombies steigen auf alles ein, was Kleingeld verspricht. Früher sahen Brüste aus wie gemalt, heute wie gemacht. F6 heißt so nach der Fernstraße neben der Tabakfabrik. Wieder ist Kleinmesse.

So geht der live-stream of consciousness beim Clemens Meyer. Der Fahrer erinnert sich „an die Schatten des alten Straßenstrichs“. Die Reihen der Wohnwagen. Die alten Luden aus den neuen Ländern. Oder umgekehrt. Ihre Reviere: abgesteckt und umkämpft. In „der Allee der schönen Augen“ gab es „einen Bumstaler“ für jeden Kunden, der vorfuhr im Taxi des Erzählers.

Clemens Meyer putzt nichts auf. Seine Sätze bleiben als Stimmungen im Gedächtnis. Er zieht eine Schlüsselfigur heran, den im Jahr der Sonnenfinsternis (1999) beinah erschossenen Arnold „Arnie“ Kraushaar. Er nennt sich Vermieter, andere sagen Zuhälter. Kraushaar lebt „in einer Zwischenwelt“, in der ihm seine „Dienstleisterinnen“ über zwei Millionen Euro Umsatz per annum bescheren. „Rechnen sie das einmal hoch bis auf das Jahr 2525.“ In The Year 2525 – In den Augen der „Dienstleisterinnen“ ist Kraushaar eine gute Glatze, „für einen fairen Typen haben sie den sechsten Sinn“. Der studierte Skinhead schwitzt selbst im Januar, „wenn alle jammern“. Er taugt zum Prototyp eines jeden, der die Zeitzeichen verstanden hat. Der verstanden hat, dass das große Geld nicht von kleinen Remplern im Nahkampf gewonnen wird. Clemens Meyer erzählt in der Backfabrik von einem Wirtschaftswunder am Rand der Gesellschaft und von seinen Dirigenten, den höllischen Heerscharen. Er erzählt von Ausgebluteten, die nicht schnell genug waren im kapitalistischen Begreifen, und vor der Tür geht das falsche Oktoberfest in die Verlängerung.





Das ist auch Clemens Meyer - Foto (C) Stefan Bock


Jamal Tuschick - 27. September 2013
ID 7191
Clemens Meyer, Im Stein
555 Seiten, 22,99 Euro
S. Fischer, 2013
ISBN 9783100486028


Weitere Infos siehe auch: http://www.fischerverlage.de/buch/im_stein/9783100486028


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