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Lesung

Westfale des Abends

Judith Kuckart erzählt von ihrer westfälischen Heimat im Brechthaus


Buchcover von Judith Kuckarts Wünsche - (C) Dumont Verlag



Brecht wirkt noch immer auf die Berliner Mitte. Er gründete das Berliner Ensemble am Schiffbauer Damm. Sein Grab liegt neben dem Brechthaus auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof an der Chausseestraße. Mit zwei Katzensprüngen erreicht man sein Ziel, ob Theater oder Friedhof, das bleibt sich insofern gleich. Jetzt beeile ich mich, ins Brechthaus zu kommen. Da liest Judith Kuckart aus Wünsche und unterhält sich darüber mit einer würstelnden Sigrid Löffler.



Sigrid Löffler moderiert Judith Kuckart, die aus Wünsche liest - Foto (C) Jamal Tuschick


Sie hat über das nationalsozialistische Gebärinstitut „Lebensborn“ und das Mädchen Rosemarie im Wirtschaftswunderland geschrieben. Rosemarie Nitribitt wurde ermordet, die Polizei wollte nicht sagen, von wem. Der Staat stand auf dem Spiel der von Bohlen und Halbachs. In ihrem jüngsten Roman Wünsche erzählt Judith Kuckart von einem gescheiterten Ausbruch.

Eine Frau spekuliert über die Zufälligkeit ihrer Existenz. Könnte sie nicht ebenso gut eine andere sein? Ihr Milieu findet sie fad. Sie geht wegen der Leute, die sie schon immer kennt. Zurück kommt sie aus dem gleichen Grund. Sie kann nur die sein, die in ihrem Kaff alle kennen. Die Autorin legt Wert darauf, dass man Wünsche so oder so lesen kann und so auch als Familienname der Geschwister Meret und Friedrich. Sie treten das Erbe eines Kaufhauses in ihrer Geburtsstadt an. Judith Kuckert lässt keinen Zweifel daran, dass von ihrer eigenen Geburtsstadt Schwelm die Rede ist, in den Augen der Welt eine Autobahnauffahrt. Ein westfälischer Kosmos für Eingesessene. Seit Erscheinen von Wünsche sei noch nie kein Schwelmer im Raum einer Lesung gewesen, erklärt Judith Kuckart. Sie bittet den Schwelmer des Abends die Hand zu heben, ein Silberrücken steht auf. Sein Bass rollt wie ein Pianolauf in Honky Tonk’s Hütte. Seine Fragen zielen auf topografische und familiäre Schwelm-Spezialitäten. Judith Kuckart antwortet zur Zufriedenheit eines Verlangens nach Kenntnissen. Die Kenntnisse erzählen so konkret wie im Märchen von Zugehörigkeit.

„In Schwelm trifft man sich stets zweimal am Tag, nichts bleibt unbemerkt.“ Das schickt Judith Kuckart ihrem Vortrag voran. Dann fährt ein Film in Worten ab, suggestiv im Futteral der Unauffälligkeit.

Die Berufsschullehrerin Vera Conrad unterrichtet angehende Schreiner und Lackierer. Sie stellt fest: „Die Storyline meines Lebens war einfach schlecht bisher.“ Sie fragt sich: „Wie schafft man es, dass man das Leben gern hat bis zum Schluss.“

Vera wuchs mit den Duftmarken der Unterschicht auf, das Sozialamt bezahlte der Mutter die Miete. Mit zwölf wurde sie auf der Straße für eine Hauptrolle entdeckt. „Vera wäre gern beim Film geblieben, wie andere gern zuhause bleiben.“ Bessere Leute nahmen sie auf. Nach dem Tod der Hausfrau, heiratete Vera ihren Ziehvater, den Jazzlabelgründer Karatsch.

„Karatsch hat so viel Körpertemperatur, dass er damit eine Turnhalle heizen könnte.“ Die kleinstädtische Gemeinschaft nennt ihn halb heimlich und halb hochachtungsvoll ein Schwein. Das lässt Vera gelten. Für sie ist Karatsch „ein kluges und sanftes Schwein“. Sie hatte es mit ihm „lange gut“. Es behauptet, „von hinten (sähe) sie noch aus wie zweiundzwanzig“. Das ist nicht belanglos, Veras Einverständnis mit Karatsch’ Obsession fällt aus dem Handlungsrahmen.

An einem Silvestermorgen am Anfang des Romans besucht Vera seit langem einmal wieder das Hallenbad. Da begeht sie ihren sechsundvierzigsten Geburtstag unter der Dusche. Neben ihr rasiert sich eine die Achseln. Der Raum füllt sich mit dem Zitronengeruch eines Gels. In der Umkleide findet Vera einen Ausweis, der ihr eine neue Identität verspricht. Sie fliegt nach London. In der Zwischenzeit schmiert Karatsch im Eigenheim, „Flachdach, bevorzugte Hanglage, Baujahr 1971“, Mettbrötchen für einen Filmnachmittag. Same procedure as every year. Gezeigt wird das Dokument der Aussicht auf eine glanzvolle Zukunft. Die dann nicht stattfand.

„Winter. Auch die Autos stehen jetzt länger im Dunklen.“ Den Bus („Mumienexpress“) nimmt nur, wer zu jung, zu alt oder zu arm ist. „Wind teilt das Haar am Hinterkopf einer Frau.“ Die Brauerei braut an Silvester. „Die beutehungrigen“ Krallen der Hallenbad-Kassiererin. Die Gummibäume im Foyer. „Die Gummibäume sind alles, was von Konrad Adenauer übriggeblieben ist.“

Während Karatsch schmiert, probt Friedrich Wünsche vor dem Spiegel eine Rede vor der Belegschaft. „Schön formulierte Lügen.“ Friedrich will „Haus Wünsche“ in einen „behaglichen Stubenladen im alten Stil“ zurückverwandeln und den als letzten Retro-Schrei der Verbraucherkultur verkaufen. Er ist so einer: „Ich muss wissen, warum ich geboren bin, warum ich gelebt habe und wie. Ich muss wissen, ob die Wege, die ich nicht eingeschlagen habe, neben denen, dich ich schon gegangen bin, noch möglich sind.“ Seine Schwester erscheint unverkrampfter als verwahrloste höhere Tochter, die in einer Wurstbude „zweifelhaftes Fleisch“ verkauft hat und nun sich fürchtet vor dem Verlust ihrer Attraktivität.

Wie gesagt, etwas Chabrol’eskes liegt im Verhältnis der Eheleute Conrad, Karatsch liebt in seiner Frau die angenommene Tochter, „das räudige kleine Ding“. Der greise Gatte meint, er sei zu früh jung gewesen. Er täuscht Vitalität vor. Zumindest behauptet das die Autorin im Gespräch mit Sigrid Löffler. Sie unterstellt dem Protagonisten Präpotenz. Offenbar macht das Personal im Roman, was es will, an allen möglichen Absichten der Autorin vorbei. So sollte Meret Wünsche wie Ingeborg Bachmann im Bett verbrennen. Das sei mit Meret nicht zu machen gewesen, die habe sich geweigert zu sterben. Judith Kuckart nennt Meret ihre „Liebste“, die Kritikerin ist ganz schnell bei Musil und einem Leben in der Möglichkeitsform nach dem „Möglichkeitssinn“ im Mann ohne Eigenschaften.
Jamal Tuschick - 3. Oktober 2013 (2)
ID 7215
Judith Kuckart | Wünsche
300 Seiten, Hardcover
EUR 19,99 [D] / 28,50 sFr.
Dumont Buchverlag, 2013
ISBN 978-3-8321-9705-6


Weitere Infos siehe auch: http://www.dumont-buchverlag.de/buch/Judith_Kuckart_Wuensche/12215


Post an Jamal Tuschick

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