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Lesung

Das Märchen von der Macht

Katharina Enzensberger liest in der Fahimi Bar aus „Stufen“




In seiner Abrechnung mit dem Spiegel erzählt Hellmuth Karasek, dass Augstein einmal leitende Herren im Bademantel empfing. Die Herren in Schlips und Slipper, Augstein lässt die Klöten baumeln. Die Macht kennt keine Scham, erzwingt sie aber unter anderen. In Stufen, einem Band voller Metamorphosen, ergänzt Katharina Enzensberger Ansichten der Macht. Man ist in Venedig, der Verleger hat zum Geburtstag eingeladen. Er lebt noch mit der ersten Frau in lauem Frieden, die zweite hebt sich ab von lauter Sehenswürdigkeiten. Die Gäste trudeln ein und nehmen Platz im ersten Haus, in Eitelkeit und Eifersucht einander verbunden. Der Verleger kommt zur vorläufigen Begrüßung, zu einem informellen Hallo. Er kommt im Bademantel, er war noch schnell schwimmen. Nicht auszudenken: die Mühe der Geladenen, passend zu erscheinen.

Es ist ein Vergnügen Katharina Enzensberger zuzuhören, wenn sie von Suhrkamp erzählt. Wie es einmal war vor langer Zeit. Das Märchen von der Macht heißt so wie der Band. Stufen heißt auch das Gedicht auf dem Grabstein von Siegfried Unseld. Katharina Enzensberger findet das Hermann Hesse-Gedicht misslungen, sie liest es trotzdem vor in dieser Kreuzberger Fahimi Bar.


"Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!"



Ich war oft am Grab von Unseld, es liegt an einer Frankfurter Friedhofsmarginale. Immer wieder fand ich auf dem Stein okkulte Objekte, einmal auch eine alte Socke. Schon meine Großmutter zählte Stufen zur eisernen Ration des deutschen Volkes. Wenn auch alles in Scherben fällt, „des Lebens Ruf an uns wird niemals enden.“

Katharina Enzensbergers Stufen sind zwanzig Jahre alter Text, das Hotel in Venedig ist „ein komfortables Labyrinth“. „Der Sohn des Verlegers begrüßt jeden Ankömmling mit viriler Herzlichkeit.“ Eine ergraute Gesellschaft geht in Stellung. Jeder Gast erscheint als sein eigener Planet. Alle Planeten „kreisen um eine Sonne“. So gesehen gefällt sich der Verleger, seine Frau hat ein kaum erträgliches „Faible für Astrologie“. Sie hält diesen oder einen anderen Geburtstag „für schlecht bestrahlt“. Venedig selbst steht als Katastrophe in den Sternen.

Geht der Bundespräsident auf Reisen, zählt die Suhrkampspitze zur Entourage – Suhrkamp, förmlich ein Sonderministerium der geistigen Bundesrepublik, wird von Leuten beherrscht, die von Leuten beeinflusst werden, die Séancen abhalten und in der Geisterwelt auf Brautschau gehen. Der Verleger hat „ein scharfes Rasierwasser“ aufgelegt, gerade spricht er mit einem Schweizer Schriftsteller, „der sich in Paris mit einer neuen Familie verjüngt hat.“

Katharina Enzensbergers solventer Stil schult sich an Madame de Staël. Die Geburtstagsgesellschaft ist eine Klassengesellschaft, „der Lyriker aus München“ erweitert sie im Augenblick. Sein Charme scheint wie „schimmernde Rohseide“. Der Schein trügt, Hans Magnus Enzensberger bleibt unnahbar „bis zu den gepflegten Fingerspitzen“. Mit freundlichen Bewegungen hält er sich die Leute vom Leib. „Manche meinen, er sei zu intelligent.“ Seine Wirkung zeigt sich sogar noch „in Fußnoten“ der Literaturgeschichte.

Auch „der biedere Schick“ einer maßgeblichen Verlagsangestellten täuscht – und verbirgt Härte.

Es herrscht Erscheinungszwang, Unselds Einladungen lassen sich nicht ausschlagen. Ein deutscher Romancier tritt „diskret, aber schwerwiegend“ auf. Eine Erscheinung von „saturnischem Bleiglanz“. Bloß Blei glänzt nicht. Gerade das mache die Beschreibung treffend, wird einem Gedankenlahmen erklärt. Katharina Enzensberger spricht von Martin Walser und lässt an ihm kein gutes Haar. Die Provinz habe sich zu mächtig auf ihn ausgewirkt. Die Autorin schildet Walser als einen „Mann der Missbilligung“. Mit dem Verleger konkurriert er um die jungen Frauen auf den Laufstegen des Literaturbetriebs.

Stella bringt sich ins Spiel, sie ist „von dramatischer Schönheit“. Sie wird alle übertrumpfen, einschließlich des Doyen’ der Runde – einem Klassiker nach Art der Grottenolme. Er hat zu Sterben vergessen und muss deshalb als lebendes Fossil in einer Welt sein, die ihm nichts mehr sagt.

Peter Handke stellt sich als junger Mann mit Verspätung ein. „Schon früh im Leben“ habe er beschlossen, „keine Miene zu verziehen.“ So nimmt die Geschichte ihren Lauf in Stufen. Katharina Enzensberger erzählt mehr. Wie es in der Freien Universität war, mit ihr als Studentin. Was da alles nicht gelesen wurde, eine Geschichte widmet sie den Schützen. Immer wieder kehrt Katharina Enzensberger zu Tierkreiszeichen zurück. Sie versteht das Interesse an den Sternen aus einem Verlangen der Gattung nach Navigation. Als die Erde noch ohne Verkehrsschilder war, half der Himmel zuverlässig dem Menschen, sich zu orientieren. Die Schützenstory knöpft sich Goldschmiedin Pauline vor, die erst einen Zentaur schmiedet und dann zum Zentaur wird. Rauch füllt die Fahimi Bar. Vor den Barfenstern rauscht Bahnen über ein Gleisbett auf Stelzen.
Jamal Tuschick - 5. Dezember 2013
ID 7428
Katharina Enzensberger | Stufen. Zehn Erzählungen
Shelff, circa 120 Seiten, Artwork: Ulrich Moritz
Cover Design: Snowden, Berlin, € 7,99 / E-Book
Erscheint am: 06.12.2013
ca. 120 Seiten
ISBN 978-3-936738-00-1


Weitere Infos siehe auch: http://shelff.de/books/stufen/


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