Médée von
Charpentier
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Musikalische Bewertung:
Medea zählt wahrscheinlich zu den durchgeknalltesten Gestalten, die die mythologische Antike für diverse theatralische und literarische und musikalische Verarbeitungen als Tragödie, als Roman oder als Oper so parat hatte und hat. Allein, was im Musiktheater der vergangenen Jahrhunderte von Komponisten so geschaffen worden war, hat Quantitäten. Im Barockzeitalter (um das beispielgebend etwas einzugrenzen) setzten so bekannte oder weniger bekannte Komponisten wie Antonio Giannettini, Johann Christian Schieferdecker, Joseph François Salomon, Giovanni Francesco Brusa, Davide Perez, Georg Gebel der Jüngere, Josef Mysliveček, Bengt Lidner, Johann Gottlieb Naumann, Gaetano Marinelli, Gaetano Andreozzi, François-Benoît Hoffman oder Francesco Piticchio Medeas Fünffachmord - die Zerstückelung ihres jüngeren Bruders Apsyrtos, die Vergiftungen von König Kreon und dessen Tochter Glauke, die Tötung ihrer beiden Söhne Mermerus und Pheres - in Noten; auch Luigi Cherubini (1760-1842) und Marc-Antoine Charpentier (1643-1704) verkomponierten Ursachen und Wirkungen all dieser obsessiven und mit purster Eifersucht (sie nennt es freilich "Liebe") hassgespeisten Bluträusche.
Gestern nun gab's bei der Premiere der Médée von Charpentier anlässlich der BAROCKTAGE der Staatsoper Unter den Linden ein illustres Stelldichein an großen Namen: Peter Sellars (Regie), Frank Gehry (Bühnenbild), Sir Simon Rattle (musikalische Leitung), Magdalena Kožená (Titelfigur)...
Ja und gleich zu Beginn vermerkt:
Die Aufführung punktete erst- und vorrangig, was alles Musikalische betraf, d.h. das Hör- und Klangfest spielte sich vor allem im Orchestergraben, wo die Musikerinnen und Musiker des Freiburger Barockorchesters saßen, ab. (Der Rattle hatte mit den Freiburgern schon mehrmals zusammengearbeitet, auch an der Lindenoper wie z.B. bei Rameaus Hippolyte et Aricie 2018.)
Was unten (im Orchestergraben) so beglückte, tat sich oben (auf der Bühne) bei dem sängerischen Personal in kongruentem Gleichmaß fortsetzen:
Ich kann mich nicht entsinnen, Magdalena Kožená jemals so gut gehört zu haben wie in dieser Rolle, zudem konnte/ kann sie überzeugend spielen also schauspielern, und nicht nur das, also Gesang UND Schauspielkunst, verliehen ihrer titelgebenden Médée eine geballte Wucht und Durchschlagskraft, aber auch leise und verzweifelt-hilflose Momente hinterließ die Kožená in der für sie geradezu prädestinierten Vorzeigepartie.
Auch will ich nachgerade von Carolyn Sampson als der Kreon-Tochter Glauke (oder Krëusa resp. Créuse) schwärmen; sie verkörperte also die Konkurrentin der Medea, welche sie in dieses von ihr mittels eines Brandbeschleunigers durchgiftete Brautkleid zu locken wusste, um kurz später live dabei zu sein, wenn sie darin verbrannte - diese letzte Arie der Dahinsiechenden, die wie eine Art von Liebestod aus ihrer Kehle leise, leiser und am leisesten verklang, empfand ich als den musikalisch absoluten Höhepunkt der Aufführung!
Grandios auch der betörend lyrische Tenor Reinoud Van Mechelen (als Jason) und der maskulinisch gottlob nicht zu überambitionierte Bariton Gyula Orendt (als Jasons Konkurrent Oronte)!!
Luca Tittoto sang/ spielte den durch das Medea-Zutun schließlich dem totalen Irrsinn ausgesetzten und verfallenen König Kreon.
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Magdalena Kožená (als Titelfigur) und Reinoud Van Mechelen (als Jason) in Charpentiers Médée an der Staatsoper Unter den Linden | Foto (C) Ruth Walz
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Das Szenische (Regie und Bühnenbild) tat insgesamt mehr als enttäuschen.
Stararchitekt-Legende Gehry hatte links und rechts der Bühne jeweils eine durchsichtige Stoff-Installation herunterhängen lassen, wobei ich die rechte eher noch als das verwunsch'ne Glauke-Kleid mit durchscheinendem Blutadergeäst vermutet hätte, bei der linken allerdings fiel mir an Deutung überhaupt nichts ein, dazwischen senkten oder hoben sich drei wie aus einer dünnen Draht- oder Metallwolle geknäu'lte Schäfchenwolken; und ein stilisiertes Flugabwehrsystem fuhr auf sechs Rädern zweimal in das Bühnenbild hinein und wiederum hinaus.
Und Sellars, der "seine" Médée zeitnah und schlichtgläubig im Flucht- oder Geflüchtetenmilieu ansiedelte, changierte bei seiner Personenführung zwischen altmodischen Auf- und Abgängen in Zeitlupe und hypertheatralischem Herumgefucht'le mit den Armen oder, wenn es etwas schneller gehen sollte, hektischem Herumgezucke der Beteiligten v.a. seitens der sportiv agierenden Statisterie-Mitglieder.
Alles das (Regie und Bühnenbild) sah ziemlich kläglich aus, und Sellars - Gehry war erst gar nicht zur Premiere angereist - heimste hierfür zurecht wütende Buhs ein.
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Andre Sokolowski - 20. November 2023 ID 14483
MÉDÉE (Staatsoper Unter den Linden, 17.11.2023)
von Marc-Antoine Charpentier
Musikalische Leitung: Simon Rattle
Inszenierung: Peter Sellars
Bühnenbild: Frank Gehry
Kostüme: Camille Assaf
Licht: James F. Ingalls
Einstudierung Chor: Dani Juris
Dramaturgie: Antonio Cuenca Ruiz
Besetzung:
Médée ... Magdalena Kožená
Jason ... Reinoud Van Mechelen
Créon ... Luca Tittoto
Créuse ... Carolyn Sampson
Cléone, L'Amour ... Jehanne Amzal
Oronte ... Gyula Orendt
Nérine, Bellone ... Markéta Cukrová
Arcas, La Jalousie ... Gonzalo Quinchahual
La Vengeance ... Dionysios Avgerinos
u. a.
Staatsopernchor
Freiburger Barockorchester
Premiere war am 19. November 2023.
Weitere Termine: 23., 25., 30.11./ 02.12.2023
Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsoper-berlin.de/
https://www.andre-sokolowski.de
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