Triumph der
zeitgenössischen
Oper
|
Profgrammheft-Cover der Staatsoper Stuttgart
|
Bewertung:
Dora empfindet Überdruss an ihrem Leben und an der Welt, die sie umgibt. Das ist die Ausgangslage einer neuen Oper, die nach einem pessimistisch-realistischen soziologischen Befund klingt. Aber dabei bleibt es nicht. Dora gerät in ein Wunderland der Fantasie und der literarischen Anspielungen.
Das Libretto schrieb Frank Witzel, der vor allem mit dem Roman Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 erhebliche Beachtung erlangt hat. Er ist nur fünfzehn Monate älter als der Komponist. Da hat ein Auftrag der Staatsoper Stuttgart zwei Künstler zusammengebracht, die gut zueinander passen.
Die Komposition des Österreichers Bernhard Lang ist eklektisch. Da kommen ganz unterschiedliche musikalischen Traditionen zusammen, auch konventionelle Instrumente mit Synthesizern, unbekümmert um einen definierten Stil. Gleich zu Beginn melden sich Schlagzeuger aus den Proszeniumslogen und der Mittelloge. Am Ende kehren sie wieder, als Abschluss eines an das 19. Jahrhundert erinnernden Finales: Richard Wagner trifft auf Edgar Varèse. Auch Richard Strauss oder Franz Schubert werden fragmentarisch zitiert. Wiederholungen zählen zum Strukturprinzip, im Text („das grüne Kleid“) wie in der Musik. Lang verzichtet auf einen massiven Chor. Stattdessen fasziniert er mit kunstvollen Verflechtungen der Stimmen der Neuen Vocalsolisten und der einzelnen Rollenträger*innen. Die Partitur zeichnet sich durch ein hohes Maß an Transparenz aus, durch eine Ausgewogenheit des Ensembleklangs.
Zu Beginn platziert die Regisseurin Elisabeth Stöppler, abweichend von Witzels Anweisungen, das Ensemble aufgereiht sitzend in Alltagskleidung im Vordergrund der flachen Bühne vor einer blendend weißen Wand, auf der in großen Buchstaben der Name der Oper und ihrer Hauptfigur – DORA – steht.
Nach knapp einer halben Stunde „verbrennt“ die Rückwand mittels Video, kippt nach hinten und gibt den Blick frei auf ein zunächst verhangenes, später enthülltes Gerüst mit wiederum Videos und Aufschriften wie „Morgen“, „Abend“, „Nacht“, „Jetzt“, „Heute“, „Gestern“, „Immer“ und zunehmend üppiger Ausstattung. Der anarchische Ansatz der Inszenierung entspricht dem Libretto und der Komposition in der für die Moderne charakteristischen Zerstörung von Kontinuität. Dora kleidet sich in ein Gewand, das an Hamlet denken lässt. Zu ihr gesellt sich der Teufel in der tradierten Gestalt Mephistos.
Das Stichwort lautet nun SONDERN:.
"Das ist doch Wahnsinn,
euer Gerede,
ich muss doch jetzt und hier
im immer gleichen Alltag sein,
in dem mir das Geschwätz nichts nützt
und mich vom Untergang nicht schützt,
wenn ich nicht weiß,
wie weiter und wohin,
und am Ende nur die Frage bleibt:
Sondern?
Sondern?"
Das kleine Orchester wird von Elena Schwarz differenziert dirigiert. Das Ensemble, allen voran Josefin Feiler in der Titelrolle, bewältigt die nicht ganz einfache Komposition selbstsicher und stimmkräftig. Vorbei die Tage, da viele gut ausgebildete Opernsänger einer Musik diesseits von Verdi und Richard Strauss mit Ängsten begegneten.
Gegen Ende singt der Chor:
"Wahrscheinlich hat der Teufel recht,
und wir sind tatsächlich aus der Zeit gefallen.
Aus einer Zeit, in der Kommentare nutzlos sind,
und Erklärungen müßig
Denn wir sind,
bitte glaube uns,
ebenso ratlos und überfordert wie du."
Das ist natürlich ironisch gemeint. Die Oper Dora ist anspruchsvoll, aber sie überfordert das Publikum nicht und hinterlässt es nicht ratlos.
Schon vor ein paar Jahrzehnten wurde gemunkelt, dass die Gattung der Oper keine Zukunft mehr habe, dass sie nicht zeitgemäß sei und ihr das Publikum ausbleiben werde. Die Prognose hat sich als falsch erwiesen. Und noch eins: dass das Stuttgarter Publikum konservativ und für neuere Musik nicht zu haben sei. Für Dora gab es lang anhaltenden, begeisterten Applaus. Uneingeschränkt und für alle Beteiligten.
Vollkommen wäre das Glück, wenn man dafür sorgte, dass die Übertitelung auch bei grell ausgeleuchteter Bühne lesbar ist.
|
Dora von Bernhard Lang - an der Staatsoper Stuttgart | Foto (C) Martin Sigmund
|
Thomas Rothschild - 4. März 2024 ID 14646
DORA (Staatsoper Stuttgart, 03.03.2024)
Oper von Bernhard Lang, Libretto: Frank Witzel
Musikalische Leitung: Elena Schwarz
Regie: Elisabeth Stöppler
Bühne und Kostüme: Valentin Köhler
Video: Vincent Stefan
Licht: Elana Siberski
Ton (Klangregie): Matthias Schneider-Hollek
Dramaturgie: Miron Hakenbeck
Besetzung:
Dora ... Josefin Feiler
Schwester ... Shannon Keegan
Bruder ... Dominic Große
Mutter ... Maria Theresa Ullrich
Vater ... Stephan Bootz
Berthold ... Elliott Carlton Hines
Teufel ... Marcel Beekman
Neue Vocalsolisten extended (als Antiker Chor)
Staatsorchester Stuttgart
UA war am 3. März 2024.
Weitere Termine: 08., 15., 22.03./ 01., 04.04.2024
Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsoper-stuttgart.de
Post an Dr. Thomas Rothschild
Ballett | Performance | Tanztheater
Konzerte
Musiktheater
Neue Musik
ROTHSCHILDS KOLUMNEN
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeigen:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
BALLETT | PERFORMANCE | TANZTHEATER
CASTORFOPERN
CD / DVD
INTERVIEWS
KONZERTKRITIKEN
LEUTE
NEUE MUSIK
PREMIERENKRITIKEN
ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|