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nachDRUCK # 5

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Premierenkritik

Weronika

Frodyma (!)

als Emma

Bovary



Bovary von Christian Spuck - mit Weronika Frodyma (als Emma Bovary) und David Soares (als Rodolphe, einer ihrer Liebhaber) | Foto (C) Serghei Gherciu

Bewertung:    



Ich war vielleicht erst 15 oder 16, als ich den Flaubert-Roman Madame Bovary las. Das war natürlich viel zu früh. Ja und selbst wenn mich seine Erzählung - Ehefrau betrügt Ehemann und bringt sich letztlich um - irgendwie neugierig zu machen schien, kann ich mich dennoch überhaupt nicht mehr an sie erinnern; vielleicht lag's am Erzählfluss, vielleicht bloß an der Sprache, oder vielleicht war's wirklich nicht spannend genug für so'nen frühreifen Spätpubertierenden wie mich. Die Brüder Karamasow, die ich ebenfalls in diesem Alter las, bereiteten mir jedenfalls mehr Leselust und -freude.

Seit 1917 wird Madame Bovary kontinuierlich oft verfilmt, bis 2016 listet Wikipedia 16 internationale Streifen auf. Inhalt und Stoff der Ehebruchsgeschichte hatten und haben das Zeug, Leser und Zuschauer zu faszinieren, und das Schicksal der Bovary ging und geht "uns allen" immer wieder ziemlich nah.

Auch im Tanztheater wurde auf Flauberts Roman bereits zurückgegriffen, Jörg Mannes choreografierte und inszenierte ihn 2012 für das Staatsballett Hannover.

Jetzt hat Christian Spuck, der - was seine Berarbeitungen literarischer Vorlagen (nach Wedekinds Lulu, nach E.T.A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi und Der Sandmann, nach Tolstois Anna Karenina oder Cervantes' Don Quijote) betrifft - eine ausgewiesene Expertise für Handlungsballette aufzuweisen hat, Bovary choreografiert und inszeniert; es ist seine erste Uraufführung als neuer Intendant am Staatsballett Berlin:


"Der Roman erzählt die Geschichte einer jungen Frau vom Land, die mehr will vom Leben als das erstickende Provinzdasein an der Seite eines kleinbürgerlich ambitionslosen Ehemanns. Emma Bovary begehrt auf gegen ihre Ehe, nimmt sich Liebhaber, verliert sich in Träumen von Leidenschaft, Luxus und Ausschweifung – und scheitert. Sie verschuldet sich heillos, ruiniert ihre Familie und begeht Selbstmord, indem sie Gift nimmt.

Nach Flauberts berühmtem Roman ist das Phänomen des 'Bovarismus' benannt, einer Form von Realitätsverleugnung: Emma Bovary begegnet ihrem langweiligen Leben in der Provinz mit einer übersteigerten Einbildungskraft, die sie durch die Lektüre von Groschenromanen und Pariser Modezeitschriften nährt. Sie liebt im Stile ihrer kitschig-romantischen Wunschwelten, lebt über ihre Verhältnisse und verliert den Blick für die Wirklichkeit.


[...]

Christian Spucks Tanzstück Bovary handelt von der Suche nach weiblicher Selbstbestimmung, von Rausch und Einsamkeit, von Liebessurrogaten, Selbstverschwendung, Genusssucht und wohin es führt, wenn sich Wunschwelten und Wirklichkeit fatal überlagern."

(Quelle: staatsballett-berlin.de)



*

Die Latte, was das Unvergesslichsein und -machen insbesondere von Literaturballetten angeht, liegt sehr hoch - und um nur kurz an zwei der glückvollst gelungenen Beispiele vergang'ner Zeiten zu erinnern: Onegin von John Cranko (1965/67) oder Die Kameliendame von John Neumeier (1978); den beiden "Klassikern" gelang es sich sowohl von ihren gedruckten Vorlagen eines Puschkin und Dumas als auch von ihren mit dem jeweiligen Original konkurrierenden Veroperungen durch Tschaikowski und Verdi deutlich abzusetzen und sich selbstbewusst wie eigenständig zu behaupten. Ihre "klassischen" Versuche wurden und werden immer wieder gern kopiert und blieben/ bleiben freilich im Vergleich zu ihnen ambitioniert, mehr nicht.

Und wie ging Spuck nun sein sehr ehrgeiziges Wagnis um Flauberts Madame Bovary an?

Neunzehn Szenen zählte ich [in der Live-Übertragung auf arteCONCERT], und es war dann schon erstaunlich und bewundernswert, wie Spuck den Zweistünder mit nahezu allen Tänzerinnen und Tänzern "seiner" neuen Company dezent zu füllen wusste. Das Corps de Ballet trat immer dann in Erscheinung, wenn es größere Gruppenbilder (während eines Balls, mitten auf der Straße, bei Nacht- und Tagtraumvisionen der Titelheldin usw.) auszufüllen galt.

Alles bestimmend freilich die darstellerische Präsenz und Ausstrahlung der ein sensationelles Hauptrollendebüt hingelegt habenden Weronika Frodyma (als Emma Bovary)! Sie war fast ununterbrochen in Aktion und vermochte es ihren irgendwie erahnbar großen Kraftverschleiß mit einer schier unglaublichen Körperbeherrschtheit als wie federgesteuerten Schwerelosigkeit ad absurdum zu führen - es bleibt tatsächlich abzuwarten, inwieweit ihr ausnahmsvoller Auftritt "besser" oder "schlechter" als derjenige der Zweitbesetzung der Bovary (alternierend wird Polina Semionova diese Partie am 27. und 30. Oktober tanzen) in Vergleich zu bringen sein würde; ich bin da ziemlich optimistisch, dass Frodyma diesbezüglich bestens abschneidet.

Alexandre Cagnat und David Soares brillierten als Emmas zwei Liebhaber. Mit dem ersten (Léon) fing sie tastend an, um mit ihm in der 10. Szene all das körperliche Liebesangestautsein rauszulassen oder zu vervollkommnen; als ihm ihr Klammern voll bewusst war, tat er sie abrupt verlassen... Nicht viel anders sollte es ihr vorher schon mit ihrem zweiten Liebhaber (Rodolphe) ergehen; jener schrieb ihr einen Abschiedsbrief, nachdem er ihrer überdrüssig wurde und sich einer Neueren annahm, was die Bovary wiederum beinahe aus dem Gleichgewicht zu bringen drohte... Und ihr liebevoller und verständnisvoller Gatte Charles (gespielt und getanzt von Alexei Orlenco) war immerdar und konnte sehen oder spüren, was mit seiner Gattin alles so passierte; aber richtig sehen oder spüren konnte er es doch wahrscheinlich nicht. Letztendlich sollte er vor ihrem mit Arsen gepuderten Gesicht kapitulieren oder gar verzweifeln - die Bovary schaffte sich schlussendlich nicht allein aus ihrem unglücklichen Liebesleid beiseite, sondern mehr wegen des wirtschaftlichen Vollbankrotts, den sie über den Gatten brachte; Spuck ließ das Finale allerdings dann nicht bei einem endgültigen Hingesiechtsein ihres Leibs bewenden, sondern brach die zelebrierte Agonie der Todgeweihten kurz und schmerzlos einfach ab.

Dominik White Slavkovský (als Warenhändler) penetrierte die durch Lust-und-Liebesphantasmagorien irr und wirr Umherschwindelnde mit zig Schuldscheinen - sicherlich auch ein Grund, weswegen die Bovary unverantwortlich ins Bodenlose fiel.

In weiteren Charakterrollen: Vivian Assal Koohnavard (als Dienstmädchen), Matthew Knight (als Apotheker), Dominic Whitbrook (als Notar), Wolf Hoeyberghs (als Bürgermeister) und Ross Martinson (als Gerichtsvollzieher).



Bovary von Christian Spuck - mit dem Staatsballett Berlin | Foto (C) Serghei Gherciu


* *

Das Orchester der Deutschen Oper Berlin musizierte unter Leitung von Jonathan Stockhammer, und der Pianist Adrian Oetiker (im Orchestergraben) hatte nicht gerade wenig zu tun, denn die insgesamte Musikauswahl bemühte v.a. die zwei Klavierkonzerte von Saint-Saëns. Es gab aber auch Moderneres, so Ligetis Apparitions für Orchester I & II und Werkausschnitte von Thierry Pécou, Toru Takemitsu, Charles Ives und Arvo Pärt - und immer wieder wurde außerdem der Sissi-Hit ("She was" von/ mit Camille) aus Marie Kreutzers Film Corsage zitiert.

Großer, verdienter Jubel.
Andre Sokolowski - 20. Oktober 2023
ID 14438
BOVARY (Deutsche Oper Berlin, 20.10.2023)
Tanzstück von Christian Spuck nach dem Roman von Gustave Flaubert

Choreographie und Inszenierung: Christian Spuck
Bühne: Rufus Didwiszus
Kostüme: Emma Ryott
Licht: Martin Gebhardt
Dramaturgie und Libretto: Claus Spahn
Video: Tieni Burkhalter
Sprecherin: Marina Frenk
Besetzung:
Charles Bovary ... Alexei Orlenco
Emma Bovary ... Weronika Frodyma
Léon, Liebhaber ... Alexandre Cagnat
Rodolphe, Liebhaber ... David Soares
Félicité, Emmas Dienstmädchen ... Vivian Assal Koohnavard
Monsieur Homais, Apotheker ... Matthew Knight
Monsieur Lheureux, Warenhändler ... Dominik White Slavkovský
Monsieur Guillaumin, Notar ... Dominic Whitbrook
Monsieur Tuvache, Bürgermeister ... Wolf Hoeyberghs
Monsieur Hareng, Gerichtsvollzieher ... Ross Martinson
Adrian Oetiker (Klavier)
Orchester der Deutschen Oper Berlin
Dirigent: Jonathan Stockhammer
UA am Staatsballett Berlin: 20. Oktober 2023
(Live-Übertragung auf arteCONCERT)
Weitere Termine: 24., 27., 30., 31.10.2023// 18., 19., 21., 22.01.2024
Eine Produktion des Staatsballetts Berlin


Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsballett-berlin.de


https://www.andre-sokolowski.de

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