Wiederbelebung
eines
Höhepunkts
|
Esther Dierkes als Jenůfa an der Staatsoper Stuttgart | Foto (C) Martin Sigmund
|
Bewertung:
Im Januar 2007 hat Calixto Bieito an der Stuttgarter Oper Leoš Janáčeks Jenůfa zur Aufführung gebracht. Die Titelrolle sang damals Eva-Maria Westbroek. Bei der Wiederaufnahme im Jahr 2016 übernahm Rebecca von Lipinski die Rolle. Angela Denoke, der die anderswo übernommene Rolle der Jenůfa auf den Leib geschrieben schien, war auf eigenen Wunsch als die Küsterin dabei.
Jetzt hat die Oper Stuttgart die Inszenierung in völlig neuer Besetzung erneut wiederaufgenommen. In der Titelrolle glänzt nunmehr die 33-jährige Esther Dierkes, die seit 2017 dem Ensemble angehört. Die Feuerprobe hat sie mit Bravour bestanden. Sie hält jeden Vergleich mit ihren Vorgängerinnen aus.
Die Bedeutung von Leoš Janáček wurde, ähnlich wie die Benjamin Brittens oder Dmitri Schostakowitschs, außerhalb seiner Heimat lange Zeit sträflich unterschätzt. Milan Kundera hat große Anstrengungen unternommen, seinen Landsmann international zu propagieren. Jenůfa liefert eins der hervorragendsten Beispiele für die Verquickung der Moderne mit nationaler Folklore, die für die osteuropäische Oper kennzeichnend ist. Insbesondere in den Chören hat die böhmische und mährische Volksmusik ihre Spuren hinterlassen. Jenůfa ist aber nicht nur musikalisch atemberaubend, sie verfügt auch, was bei Opern keine Selbstverständlichkeit ist, über ein spannendes und hochdramatisches Libretto. Janáček hat es selbst geschrieben auf der Grundlage eines Dramas von Gabriela Preissová, die allerdings literarisch nicht so bedeutend war wie die Verfasser der Vorlagen für Katja Kabanowa oder Die Sache Makropulos, Alexander Ostrowski und Karel Čapek.
Am Ende erklärt Laca, dass er bei Jenůfa bleiben möchte. Sie singt: „Zu dir führt mich die große Liebe, die dem Herrgott wohl gefällt.“ Zuvor hat Laca ihr die Wange mit dem Messer aufgeschlitzt, weil sie den gemeinsamen Ziehbruder Števa liebt. Er „verzeiht“ Jenůfa , dass sie von Števa, einem Weiberhelden und Säufer, der die entstellte Frau inzwischen verlassen hat, ein Kind bekommen hat, das die Stiefmutter, die „Küsterin“, mittlerweile getötet hat. Der Kindsmord findet in der Musik statt, noch ehe er szenisch vollzogen wird. Aufgedeckt wird er durch den Schäferjungen Jano, der ein wenig an den Gottesnarren in Boris Godunow erinnert. Kinder und Narren sprechen bekanntlich die Wahrheit. Laca ist glücklich, als er Jenůfa schließlich bekommt, und verfällt in der Stuttgarter Inszenierung in eine Lachorgie. Jenůfa stimmt in das Lachen ein, aber in das Lachen mischt sich ein Weinkrampf. Ihr Glück ist das pure Elend. Ein gewaltiger Schluss, das verzweifelte Happy End einer grandiosen Aufführung.
Calixto Bieito, bekannt für die krude Grausamkeit seiner früheren Regiearbeiten, hat sich hier, ausgerechnet bei diesem krassen Stoff, zurückgenommen und statt auf Drastik und knallige Effekte auf eine subtile psychologische Zeichnung der Figuren gesetzt. Seine Handschrift mag man in der expliziten Sexualität, in den Frauen des Chors erkennen, die ihre Verführungskünste einsetzen, um sich Vorteile zu verschaffen. Die 1904 uraufgeführte Oper erinnert in der Opfergeschichte einer Frau an das bürgerliche Trauerspiel des 18. und 19. Jahrhunderts, aber auch an Nikolaj Leskovs Lady Macbeth von Mzensk, die Schostakowitsch dreißig Jahre nach Jenůfa als Vorlage für seine gleichnamige Oper wählte. Man kann in Jenůfa auch eine Schwester von Ödön von Horváths Marianne und Elisabeth sehen, ein Glied in der weiblichen Leidensgeschichte und der Mitleidsästhetik.
Die neue Besetzung kann, nicht nur mit Esther Dierkes, rundum begeistern. Der Lokalmatador Matthias Kink gibt den redlichen, aber ungeliebten Laca, diesen tumben Tor, der cum grano salis etwas von Dostojewskis „Idioten“ Myschkin hat, nicht nur mit gewohntem sängerischem Schönklang, sondern auch schauspielerisch überwältigend. Rosie Aldridge singt als Gast die schwierige Rolle der Küsterin mit kraftvoller, wandlungsfähiger Stimme. Publikumsliebling Helene Schneidermann ist in der Rolle der alten Buryja zu bewundern. Und auch die übrigen Solist*innen lassen nichts zu wüschen übrig. Auf gut schwäbisch: „Wir können nicht klagen.“
Zu Bieitos Verdiensten zählt, wie er den wie stets ausgezeichneten Chor – beginnend mit der Ankunft der Rekruten und Števas – choreographiert. Das transzendiert die übliche Routine bei weitem. Erwähnt werden muss auch die sorgfältige Lichtregie von Reinhard Traub. Als Regie-Mitarbeiterin wird die mittlerweile gefragte Lydia Steier genannt. Welchen Anteil sie am Ergebnis hatte, können wir freilich nicht sagen.
|
Matthias Klink (als Laca) und Esther Dierkes (als Titelfigur) in Jenůfa an der Staatsoper Stuttgart | Foto (C) Martin Sigmund
|
Thomas Rothschild – 13. November 2023 ID 14470
JENŮFA (Staatsoper Stuttgart, 12.11.2023)
Musikalische Leitung: Marko Letonja
Regie: Calixto Bieito
Regie-Mitarbeit: Lydia Steier
Bühne: Susanne Gschwender
Kostüme: Ingo Krügler
Licht: Reinhard Traub
Chor: Bernhard Moncado
Dramaturgie: Xavier Zuber
Besetzung:
Alte Buryja ... Helene Schneiderman
Laca ... Matthias Klink
Števa Buryja ... Elmar Gilbertsson
Die Küsterin Buryja ... Rosie Aldridge
Jenůfa ... Esther Dierkes
Der Alte ... Shigeo Ishino
Der Richter ... Andrew Bogard
Seine Frau Maria ... Theresa Ullrich
Die Tochter Karolka ... Lucia Tumminelli
Schäferin ... Jasmin Hofmann
Barena ... Itzeli Jáuregui
Jano ... Emilie Kealani
Tante ... Karin Horvat
Staatsopernchor Stuttgart
Staatsorchester Stuttgart
Wiederaufnahme war am 12. November 2023.
Weitere Termine: 15., 18., 24.11./ 01., 07.12.2023
Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsoper-stuttgart.de
Post an Dr. Thomas Rothschild
Ballett | Performance | Tanztheater
Konzerte
Musiktheater
ROTHSCHILDS KOLUMNEN
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeigen:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
BALLETT | PERFORMANCE | TANZTHEATER
CASTORFOPERN
CD / DVD
INTERVIEWS
KONZERTKRITIKEN
LEUTE
NEUE MUSIK
PREMIERENKRITIKEN
ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski
RUHRTRIENNALE
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|