Scheißzaren
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Alexander Tsymbalyuk und Matthias Klink in Frank Castorfs Boris Godunow-Inszenierung an der Hamburgischen Staatsoper Foto (C) Brinkhoff/Mögenburg
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Szenische Bewertung:
Es ist ruhig um Frank Castorf (72) geworden. Aus dem Ausland erreichten und erreichen einem ab und zu so Nachrichten, dass er mitunter in Frankreich, Serbien oder Griechenland an dortigen Theatern gearbeitet haben soll; das alles hätte ich wohl gern gesehen, doch wer mochte mir die vielen Reisen dorthin je bezahlt haben; ging also nicht, partout nicht, schade... Im deutschsprachigen Raum gab es zwei kardinale Großanlässe, die sein bis dahin allgegenwärtiges Berserkertum womöglich ausbremsten: die Corona-Lockdowns und das emanzipatorische Aufbegehren insbesondere der Frauen an den Staats- und Stadttheatern (Stichwort: "übergriffige" Regisseure), was zu einer theaterethischen Neuordnung führte, um der generellen Übermacht von usurpatorischen Potentaten an diversen Bühnen Einhalt zu gebieten. Castorf zählt gewiss mit hunderttausendprozentiger Garantie nicht zu denjenigen, denen man womöglich "Übergriffigkeiten" nachzusagen haben müsste, und obgleich sein herrscherischer Umgang mit den Leuten seines jeweiligen Zirkels (Stichwort: Castorf-Family) fast sprichwörtlich und allgemein bekannt sein dürfte. Doch jetzt scheinen halt, was dieses Metoo an Theatern so betrifft, andere Zeiten angebrochen zu sein. Vielleicht ein Grund von vielen, weswegen es um ihn so ruhig geworden ist.
Seit Tagen recherchiere ich im Internet, ob wer und wo was in der neuen Spielzeit von bzw. mit ihm stemmt, ja und ich finde lediglich den für den 17. Februar 2024 avisierten Heldenplatz, den er am Burgtheater Wien inszenieren soll. Vor den Corona-Zwangspausen und insbesondere seit seiner skandalösen und vom damaligen (Un-)Kultursenator vorangetriebenen Beseitigung als Intendant der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz engagierten ihn konstant und regelmäßig solche deutschsprachigen Spitzenhäuser wie das Residenztheater München, das Deutsche Schauspielhaus Hamburg, das Schauspiel Stuttgart, das Schauspiel Köln, das Berliner Ensemble, das Schauspielhaus Zürich oder halt die Burg; und nach und nach wollten dann auch die Opernhäuser was von ihm, sein legendärer Ring in Bayreuth ließ sie alle mächtig aufhorchen, und so kam es zu Aufträgen in Stuttgart, München und Berlin-Charlottenburg. Auch Hamburg klopfte an und wollte 2020 Mussorgskis Boris Godunow von ihm - dieses Projekt kam wegen Corona nicht zustande. Stattdessen schlugen Georges Delnon und Kent Nagano ihm eine Abfolge loser Stücke von "Hamburger Komponisten" vor, mit denen sich Castorf auseinandersetzen könnte. Er zickte nicht lange herum und machte aus dem Misch eine durchaus sehbare Performance, die unter dem Titel molto agitato einige Zeit dort lief, zwar mit extrem wenigem Publikum (Stichwort: Abstandsregeln), aber immerhin.
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In diesem Spätsommer nun konnte der 2020 inszenatorisch begonnene Boris Godunow endlich fertig gestellt und an der Hamburgischen Staatsoper aufgeführt werden. Premiere war am vergangenen Samstag - ich besichtigte das Resultat in der Zweitvorstellung gestern Abend.
Gleich vorweg:
Es ist die einfalls- und belangloseste und zudem inkonsequenteste Regiearbeit, die ich von ihm je sah! Er knüpfte allem Anschein nach mit seinen Ideen passgenau an dem an, wo er 2020 aufhörte; 2020 gab es allerdings noch keinen Ukrainekrieg - jetzt wütet selbiger bereits seit anderthalb Jahren, und Castorf machte sich mitnichten die Mühe dieses für den traditionellen russischen Imperialismus so typische Zaren- resp. Diktatorenstigma (Zaren- resp. Diktatorenherrschaft ohne Kriege gegen die Nachbarstaaten? Geradezu unbdenkbar!) seiner aktuellen Sicht der Dinge dementsprechend anzugleichen. Muss er freilich nicht, aber er hätte es, wenn er gewollt hätte, gewiss getan. Das allerhärteste und suspekteste Zeichen einer gewissen "Parallele" zwischen früher und später war dann die Verwandlung des Historienschreibers und -veränderers Pimen zu Stalin (Vitalij Kowaljow); das sah dann wiederum so furchtbar platt und dämlich aus, dass man es eigentlich nicht mal für randnotierenswert erachten sollte. Szenische Hinweise auf den heutigen Zaren? Null.
Was ist los mit Castorf!
Wenigstens - und das ist der für mich alleinige Erlebnis- und Wissensertrag des von Kent Nagano mit 2 h 10 min angesetzten sog. Ur-Boris - gibt es eine spannende Lektüre im Programmheft; Castorfs langjähriger Dramaturg und Mitstreiter Patric Seibert verfasste einen Essay unter der Überschrift Grundzutaten russischer Geschichte - ein Abriss. (Warum Castorf sich von diesem Text nicht kreativisch inspirieren ließ? Ich weiß es einfach nicht.)
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Alexander Tsymbalyuk als Boris Godunow in Frank Castorfs Inszenierung an der Hamburgischen Staatsoper | Foto (C) Brinkhoff/Mögenburg
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Und musikalisch?
Die Chöre sangen und spielten (spielten?) meistens vorne an der Rampe; dadurch hörte man sie freilich gut und gut koordiniert.
Alexander Tsymbalyuk war als Titelfigur besetzt; wirkte glaubwürdig.
Alle andern [Namen s.u.] mit erwartbar akzeptablem Staatsopernniveau.
Das Drehbühnenbild von Aleksandar Denić zitierte unüberraschend russische, sowjetische Symbole; die Coca-Cola-Flasche am Schluss als total bescheuertes Zeichen einer vorübergehend westlich indoktrinierten Geistes- und Konsumhaltung des Russen an sich hat sich ja mittlerweile wieder überholt.
Adriana Braga Peretzki ließ das mitwirkende Personal mit all den abenteuerlichen Fetzen ihrer immer hysterischeren Haute-Couture-Wut einkleiden.
Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg: grundsolide.
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Andre Sokolowski - 21. September 2023 ID 14395
BORIS GODUNOW (Hamburgische Staatsoper, 20.09.2023)
Musikalische Leitung: Kent Nagano
Inszenierung: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Denić
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Licht: Rainer Casper
Video: Andreas Deinert, Severin Renke, Jens Crull und Maryvonne Riedelsheimer
Dramaturgie: Patric Seibert
Chöre: Eberhard Friedrich
Besetzung:
Boris Godunow ... Alexander Tsymbalyuk
Fjodor ... Kady Evanyshyn
Xenia ... Olivia Boen
Xenias Amme ... Renate Spingler
Fürst Schuiskij ... Matthias Klink
Schtschelkalow ... Alexey Bogdanchikov
Pimen ... Vitalij Kowaljow
Grigorij / Dimitrij ... Dovlet Nurgeldiyev
Warlaam ... Ryan Speedo Green
Missail ... Jürgen Sacher
Schenkwirtin ... Marta Świderska
Gottesnarr ... Florian Panzieri
Polizeioffizier ... Hubert Kowalczyk
Leibbojar ... Mateusz Ługowski
Mitjucha ... Julian Arsenault
Chor und Extrachor der Hamburgischen Staatsoper
Alsterspatzen – Kinder- und Jugendchor der Hamburgischen Staatsoper
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Premiere war am 16. September 2023.
Weitere Termine: 23., 26., 28.09./ 04., 07.10.2023
Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsoper-hamburg.de/
https://www.andre-sokolowski.de
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