Parallelitäten
Teodor Currentzis und "sein" neues Ensemble Utopia
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Bildquelle: instagram.com/utopia.orchestra
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Bewertung:
Unter den Barockfans sind King Arthur (1691) als auch Dido and Aeneas (1689) von Henry Purcell (1659-1696) feste Nummern, und mit diesen beiden Opern bringen sie den "Orpheus britannicus" in erster Linie im Zusammenhang. Sowohl die eine als auch die andere erfreuen sich seither - und seit Begehen der historischen Aufführungspraxis ab Ende des vorigen Jahrhunderts ganz besonders - unzähliger Dargebrachtseinsweisen; man ist mit ihnen durchaus vertraut und fühlt sich allumfassend informiert.
Ganz anders verhält es sich mit Purcells The Indian Queen (1695).
Oder kennt die - außer mir, der ich hierzu jetzt live vor Ort (Philharmonie Berlin, im Großen Saal) gewesen war - noch irgendwer?
Es gab ein spektakuläres Gastspiel von Utopia Choir & Orchestra, die anlässlich ihrer The Indian Queen-Tour aktuell auch in der deutschen Hauptstadt "kurz" Station machten.
Ihr Gründer und künstlerischer Leiter Teodor Currentzis, der ungestüme Superstar unter den Spezialistinnen und Spezialisten der sog. Alten Musik, hatte sich mit der Semi Opera bereits vor mehr als zehn Jahren pennibel auseinandergesetzt, und Alt-Regiestar Peter Sellars steuerte hierfür seine szenischen (und später halbszenischen) Ideen bei. Erstaufgeführt und -gespielt wurde Currentzis'/Sellars' Sicht der Dinge in einer aufwändigen Koproduktion der sibirischen Oper Perm mit dem Teatro Real Madrid - - dann kam der russische Überfall auf die Ukraine, und speziell Currentzis geriet in einen bis heute anhaltenden Erklär- oder Bekennerzwang, dem er nicht stark genug entsprechen wollte oder konnte, auch weil "seine" musicAeterna Choir & Orchestra (mit denen er auch weiterhin Programme entwickelt und fast ausschließlich in Russland konzertiert) am Geld- und Gängeltopf der Russen hingen und noch immer hängen; Currentzis hat im Übrigen die russische Staatsbürgerschaft, die ihm 2014 von Putin per Dekret verliehen worden war; das alles macht's für ihn nicht einfacher.
Kurzum: Die Neugründung von Utopia ermöglicht es ihm, auch unabhängig seiner nach wie vor bestehenden Engegaments bei musicAeterna, die von ihm bevorzugten musikalischen Projekte auch "im Westen" - ungeachtet jeder weiteren Kritik an ihm - zu realisieren. Das Ensemble basiert lt. Selbstaussagen auf einem projektbezogenen "Zusammenkommen von Musikern aus aller Welt"; derzeit wären es 112 aus 28 Ländern, auch Russen und Ukrainer sind dabei. Finanziert wird das Ensemble durch Konzerterlöse und mit Unterstützung der Kunst und Kultur DM Privatstiftung.
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Currentzis'/Sellars' nunmehr halbszenische Indian Queen feierte bei den Salzburger Festspielen vor zwei Jahren Premiere. Am kommenden Freitag wird sie in Antwerpen gezeigt, und nunmehr (wie gesagt) machte sie in Berlin Station.
Ihr lag...
"...ein damals populäres Schauspiel von John Dryden und Robert Howard zugrunde — ein bizarres 'heroic drama', das vor dem Hintergrund fiktiver Konflikte zwischen den Azteken und den Inkas spielt und dessen überlebensgroße Protagonisten und aberwitzig unwahrscheinliche Handlung im Dienste der moralisch-intellektuellen Erbauung des Publikums stehen. So fremd uns Drydens Theaterwelt heute ist, so wenig hat Purcells Musik ihre Kraft eingebüßt, uns im Innersten zu berühren. Der Regisseur Peter Sellars hat daher eine Fassung geschaffen, die die Vokal- und Instrumentalnummern der Indian Queen in einen neuen Handlungsrahmen stellt: Unter Verwendung von Passagen aus Rosario Aguilars Roman La niña blanca y los pájaros sin pies (Das weiße Mädchen und die Vögel ohne Füße) wird die Geschichte der spanischen Eroberung Mittelamerikas aus der Perspektive dreier Frauen erzählt. Die 'Indianerkönigin' ist hier die Tochter eines Maya-Häuptlings, die einem Conquistador als Konkubine gegeben wird, damit sie für ihr Volk spioniert. Sie verliebt sich in ihn und schenkt ihm eine Tochter, muss aber schließlich erkennen, dass ihre Hoffnung, er würde sich zugunsten der Liebe von Eroberungswut und Zerstörung abkehren, vergeblich war. Die Tragödie spannt einen gewaltigen emotionalen Bogen: Die 50-minütige Originalpartitur der Indian Queen ergänzten Sellars und Currentzis nicht nur um expressive Solo-Lieder und Arien des Komponisten, sondern auch um eine Auswahl von Purcells geistlichen Chorstücken — verinnerlichte, schmerzlich schöne Musik."
(Quelle: salzburgerfestspiele.at)
So weit so gut.
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The Indian Queen von Henry Purcell mit Teodor Currentzis und "seinem" neuen Ensemble Utopia bei den Salzburger Festspielen 2023 | Bildquelle: SF/Marco Borrelli
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Die fast vierstündige Aufführung (erst kurz vor Mitternacht war Schluss) gestaltete sich, ungelogen, als ein Hohefest der Musik; und hinterher geriet das Publikum fast völlig außer Rand und Band, die Begeisterungswellen waren geradezu tsunamisch.
Das groß aufgestellte Spezialistinnen- und Spezialistenorchester - allein 4 Kontrabässe, 5 Celli, 2 Theorben, jede Menge Blasinstrumente, diverses Schlagwerk usw. - und der 34köpfige Chor sowie die 7 Gesangssolistinnen und -solisten (Jeanine De Bique in der Titelrolle sowie Mingjie Lei, Kirill Nifontov, Natalia Smirnova, Dennis Orellana, Andrey Nemzer, Nicholas Newton) inkl. der Schauspielerin Amira Casar, die auf einem Extrapodium die von Sellars bestimmten Textpassagen auf Englisch deklamierte, verweilten in einem permanenten Halbdunkel, das lediglich und entsprechend jeweiliger Stimmungslagen entweder mit blauen, gelben, orangen oder roten Aufhellungen belichtet worden war; das hätte durchaus auch zu einer Übermüdung der Zuschauenden führen können, was am Ende allerdings so nicht passierte: Currentzis sei Dank!
Er "erschien" fürwahr als ausführender Magier im gesamten Spiel. Er trat in Schwarz mit Hosenrock und schulterbedecktem aber ärmellosem Kasack auf. Der Hingucker bei seinem auffälligen Outfit waren seine nackten Arme, dessen Helle sich aus jenem performativen Halbdunkel dieser Aufführung deutlich abhob und bei den Beteiligten (Orchester, Chor, Solisten) für unmissverständlich-eindeutige Sichtbarkeit all seiner dirigentischen Einsätze sorgte. Und immer, wenn er "es" ganz genau und hochspeziell haben wollte, bewegte er sich in unmittelbare Nähe besonders des Protagonisten-Septetts, um ihm quasi von Hand zu Mund direkter als direkt die Vorgaben zu machen, wie er "es" von ihm gesungen haben wollte... Es funktionierte, und es sah so aus als ob es niemals anders als perfektionell geplant gewesen war.
Currentzis - Suggestionswunder.
Offenbar wurde ein nicht nur künstlerischer Mannschaftsgeist, dessen musikalischen und v.a. empathischen Aussendungen und Ausstrahlungen ich mich nicht verschließen konnte; ja, das war schon irre: Er und die "seinen" hatten es auf mich, einen emotional sehr leicht Beeinflussbaren, abgesehen, und sie hatten das und mich geschafft!
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Andre Sokolowski - 19. Februar 2025 ID 15153
THE INDIAN QUEEN (Philharmonie Berlin, 17.02.2025)
Henry Purcell: The Indian Queen
Semi-opera in einem Prolog und fünf Akten Z 630 (1695)
Libretto nach dem gleichnamigen Schauspiel von John Dryden und Robert Howard
In einer Fassung von Peter Sellars (2013/2016)
Jeanine De Bique (Teculihuatzin/ Doña Luisa)
Mingjie Lei (Don Pedrarias Dávila)
Kirill Nifontov (Doña Isabel)
Natalia Smirnova (Don Pedro de Alvarado)
Dennis Orellana (Hunahpú)
Andrey Nemzer (Ixbalanqué)
Nicholas Newton (Maya-Schamane)
Amira Casar (Sprecherin)
Utopia Choir
(Einstudierung: Vitaly Polonsky und Evgeny Vorobyov)
Utopia Orchestra
Dirigent: Teodor Currentzis
Die Berliner Konzertdirektion Hans Adler ist Veranstalter einer ganzen Currentzis-Reihe mit "seinem" neuen Ensemble Utopia - zuletzt gab es im Oktober 2024 Mahlers fünfte Sinfonie, als nächstes folgt am 10. April Mahlers Vierte (mit der Sopranistin Regula Mühlemann).
http://www.teodor-currentzis.com/index.php/utopia-orchestra/
https://www.andre-sokolowski.de
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