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Konzertkritik

Tschaikowsky

mit Rahmen



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Nach Schumann und Brahms nun also zu diesem Saisonende vier Sinfonien von Tschaikowsky (und das Dogma der zwei Konzerte verhindert, dass alle Sinfonien des Komponisten gespielt werden. Schade. Dennis Russell Davies hat zwischen 1998 und 2009 in der zweckentfremdeten Stuttgarter Mercedes-Benz Niederlassung sämtliche 107 Sinfonien von Haydn dirigiert. Das geht auch. Man muss nur stur genug sein.)

Cornelius Meister hat sich aber etwas ganz anderes einfallen lassen. An einem Stuttgarter Traditionsgymnasium, dem Eberhard-Ludwigs-Gymnasium, kurz Ebelu, gibt es seit 2013 einen „Musikhochbegabtenzug“. Im Einflussbereich der Sowjetunion, also auch in der DDR, erfreute sich die Idee der „Musikgymnasien“ schon lange besonderer Pflege. Im Westen konnte sie sich nur spät und eher zögerlich durchsetzen. Bei dem zweiten Konzert des Staatsorchesters Stuttgart wurden die zwei Tschaikowsky-Sinfonien eingeleitet von Danzón Nr. 2 des mexikanischen Komponisten Arturo Márquez in der Interpretation des Sinfonieorchesters des Eberhard-Ludwigs-Gymnasiums unter der Leitung von Sandra Niehaves von der Stuttgarter Musikschule, der Cornelius Meister höchstpersönlich Blumen überreichte, und von Edvard Griegs Peer-Gynt-Suite Nr. 1, die das Schülerorchester zusammen mit dem Staatsorchester unter der Leitung von Cornelius Meister aufführte. Im Anschluss an das Hauptprogramm musizierte die Jazz-Band des Ebelu im Foyer der Liederhalle unter der Leitung von Florian Veit und Oskar Rimmele. Es ist diese Regsamkeit, die unermüdliche Unternehmungslust Cornelius Meisters, die einen schon jetzt bedauern lässt, dass der erfolgreiche Dirigent Stuttgart wegen eines in den öffentlichen Verlautbarungen nur angedeuteten Dissenses 2026 verlassen wird. Wenn sein Engagement ein Glücksfall war, dann ist sein angekündigter Abschied eine Katastrophe.

Zu diesem Schluss, zur Prognose, wenn nicht einer Katastrophe, so jedenfalls eines Verlusts, kommt man auch bei Meisters wie immer sorgfältigen Ausdeutung der Tschaikowsky-Sinfonien. Nichts ist da schludrig, nichts dem Zufall überlassen, jede Pause, jedes Ritardando scheint wohlüberlegt. Cornelius Meister ist ein Virtuose des Crescendos, exemplarisch im Schlusssatz der 1. Sinfonie. Ein großer Teil von Tschaikowskys Wirkung beruht auf der allmählichen Steigerung der Lautstärke und des damit verbundenen Pathos (nicht nur in der „pathetisch“ benannten 6. Sinfonie).

Manche Kritiker werfen dem bekanntesten russischen Komponisten vor, er sei nicht in der Lage gewesen, das thematische Material zu entwickeln. (Ich könnte auf die Idee kommen, dass die Tschaikowsky-Verachtung und der Wagner-Kult zwei Seiten einer Medaille seien, wenn ich nicht einen Musiklehrer, Gott habe ihn selig, gehabt hätte, der als positives Gegenbild zu Tschaikowsky nicht Wagner, sondern Johann Strauß erkoren hat.) Cornelius Meister freilich lässt es sehr plausibel erscheinen, wie das Motiv, das an das russische Kampflied mit dem deutschen Text „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ erinnert, die Sätze der 1. Sinfonie wie eine Klammer zusammenhält.

Cornelius Meister gab sich offenbar alle Mühe, die 2. Sinfonie zu rehabilitieren, aber wenn man sich nicht belügt, muss man schon zugeben, dass sie mit der gegenüber gestellten Sechsten, oder auch der Vierten und Fünften, an Erfindungsreichtum und Suggestivität nicht konkurrieren kann. Deren Bekanntheit hat objektive Gründe.

Meister hat die deutsche, nicht die amerikanische Aufstellung des Orchesters gewählt, mit neun, am zweiten Tag sogar zehn Kontrabässen im Hintergrund. Eine Entscheidung im Spannungsfeld von Konvention und Freiheit. Sie ist nicht die einzige, die ein Orchesterkonzert zu einem Abbild der Gesellschaft macht. Einerseits gibt es kaum eine eng zusammenarbeitende Gruppe, die so multinational zusammengesetzt und aufeinander angewiesen ist wie ein Orchester. Andererseits haben sich in ihm Rituale bewahrt, die keine Funktion mehr erfüllen. Das beginnt bei der Kleiderordnung, als würden die Musiker in legerer Sommerkleidung schlechter spielen als in der überlieferten „Uniform“. Und das setzt sich fort in der frontalen Aufstellung wie zum Gruppenfoto, ehe die Musiker Platz nehmen und ihre Instrumente stimmen. Es endet mit dem Händeschütteln des Dirigenten und der musikalischen Nachbarn, als hätten sie sich nicht längst in der Garderobe begrüßt. Es ist, als dürfte man Kartoffeln nicht mit dem Messer teilen, weil das Silberbesteck, das niemand mehr besitzt, anläuft.

Und doch: das Publikum liebt diese Bräuche. Auch wenn es selbst in kurzen Hosen und T-Shirt zum Konzert erscheint und einem die Schwingtür ins Gesicht fallen lässt, statt sie für Nachkommende zu halten, wie wir es noch gelernt haben, als wir längst weder Frack noch Smoking trugen.

Am Schluss sprang Cornelius Meister wagemutig von der Bühne und führte das Publikum zu den Jazz-Schülern im Foyer. Was da vom Notenblatt gespielt wurde, klang allerdings sehr akademisch. Mit Wehmut dachte ich an jene jungen Autodidakten, die, noch bevor Erich Kleinschuster in Graz den ersten Studiengang für Jazz gründete, in den Jazzkellern improvisierten. Was für die sogenannte „Klassik“ gut ist, ist es nicht unbedingt für Jazz.
Thomas Rothschild – 16. Juli 2024
ID 14838
TSCHAIKOWSKY-ZYKLUS DES STAATSORCHESTERS STUTTGART (Liederhalle, 14./15.07.2024)
Teil I
Pjotr Iljitsch Tschaikowsky: Sinfonie Nr. 1 g-Moll, op. 13
- Sinfonie Nr. 5 e-Moll, op. 64

Teil II
Arturo Márquez: Danzón Nr. 2
Sinfonieorchester des Eberhard-Ludwigs-Gymnasiums
Dirigentin: Sandra Niehaves


Edvard Grieg: Peer-Gynt-Suite Nr. 1
Sinfonieorchester des Ebelu mit Staatsorchester Stuttgart
Dirigent: Cornelius Meister


Tschaikowsky: Sinfonie Nr. 2 c-Moll, op. 17
- Sinfonie Nr. 6 h-Moll, op. 74
Staatsorchester Stuttgart
Dirigent: Cornelius Meister

Jazz-Band des Ebelu (im Foyer der Liederhalle)
Leitung: Florian Veit und Oskar Rimmele


Link zum Staatsorchester Stuttgart


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