2 x 2
Brahms
|
|
Bewertung:
Das Modell ist in zahlreichen Städten zwischen Wien und Berlin das gleiche: Das Spitzenorchester am Ort spielt seine Abonnementkonzerte am Sonntagvormittag und wiederholt sie dann am Montagabend. So auch das Staatsorchester Stuttgart. Aber Cornelius Meister weicht vom Schema ab. In einzelnen Saisonen reproduziert er am Montag ausnahmsweise nicht das Sonntagskonzert, sondern dirigiert stattdessen an den beiden aufeinander folgenden Tagen je zwei Werke bedeutender Symphoniker. 2019 waren es die Symphonien von Schumann, für kommendes Jahr sind vier der sechs Symphonien von Tschaikowski angekündigt. Und diesmal, fast schon in der Sommerpause, sind es die Symphonien von Johannes Brahms. Der Vorzug liegt auf der Hand. Wer will, kann sich nach Lust und Laune eins der Konzerte aussuchen. Wer aber beide Konzerte wählt, bekommt einen konzentrierten Überblick über das symphonische Werk des Komponisten, kann vergleichen und die Entwicklung verfolgen. Der Vollständigkeitswahn ist eben kein Wahn, sondern Einsicht in die Tatsache, dass es das Gesamtwerk ist, was die musikalische (oder literarische, oder malerische, oder filmische) Identität eines Künstlers ausmacht. Die Konzeption ist ein Gegenentwurf zum Programmprinzip der größtmöglichen Abwechslung, zur Radioideologie, dass auf ein langsames Stück ein schnelles, auf ein neueres ein älteres, auf ein instrumentales ein vokales (und umgekehrt) folgen müsse und erst recht zum Klassik Radio, das einzelne Sätze aus dem Zusammenhang reißt und sendet für Zeitgenossen, denen die Fähigkeit abtrainiert wurde, länger als zehn Minuten zuzuhören. Sie bildet eine Analogie zu monothematischen Ausstellungen im Gegensatz zu Misch-Masch-Schauen nach dem Vorbild des Flohmarkts. "Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen;/ und jeder geht zufrieden aus dem Haus." Wer, statt dem weisen Goethe zu vertrauen, Zusammengehörendes bringt, entlässt manche vielleicht noch zufriedener aus dem Haus.
Was sogleich auffällt, wenn man die vier Symphonien von Brahms hintereinander hört – die 2. und 4. am Sonntag, die 3. und 1., in dieser Reihenfolge, am Montag –, sind Dramatik und Pathos der Schlusssätze mit ihren aufsteigenden Melodielinien. Cornelius Meister findet genau das richtige Maß, gibt ihnen, was sie verlangen, ohne effekthuberisch zu übertreiben.
Das erste Konzert begann mit einer Verspätung von einer Viertelstunde. Man sah den Opernintendanten, dem man dankbar sein muss, dass er Cornelius Meister nach Stuttgart geholt hat, hinter die Bühne eilen, begründet aber wurde die Verzögerung nicht. Ob der erste Hornist im Stau stecken geblieben war? Kaum. Aber das wäre eine verzeihliche Ursache gewesen. Er war für die 2. Symphonie unverzichtbar und leistete seinen Beitrag gerade so auffällig, dass die Stimme nicht zu überhören war, und gerade so angemessen, dass der Orchesterklang im Lot blieb. Souverän verwaltete Meister die Disproportion der Symphonie mit ihren Sätzen von – bei dieser Aufführung – 25, 11, 4 und 10 Minuten Dauer. Eindrucksvoll auch der geradezu schmerzlich machtvolle Einsatz der Streicher nach einer von den Holzbläsern dominierten Introduktion im Finale der 4. Symphonie mit der Satzbezeichnung Allegro energico e passionato. Energisch und leidenschaftlich: das Staatsorchester unter Cornelius Meister nimmt die Forderung beim Wort.
Bei der Verneigungsrunde lässt der Dirigent als Ersten den Triangelspieler aufstehen. Ein Witz? Eine Wiedergutmachung für Georg Kreislers Lied Das Triangel? Nein, man hat das unscheinbare Instrument aus der letzten Reihe tatsächlich gehört und seine Bedeutung erkannt. Die Reverenz ist berechtigt.
Zu den Meriten eines Zyklus wie diesem gehört, dass dem Dirigenten ein breites Spektrum zur Verfügung steht, sein Talent zur Differenzierung unter Beweis zu stellen. In der 3. Symphonie klingt der 3. Satz wie der Inbegriff dessen, was man sich unter romantischer Musik vorstellt. Cornelius Meister gestaltet ihn wie ein Lied. Man könnte sich einen Text von Heinrich Heine dazu denken.
Wo im 4. Satz der 1. Symphonie das Studentenlied Ich hab mich ergeben anklingt, wird Meisters Interpretation bei aller Klarheit und Transparenz feierlich, ja hymnisch. Man könnte sie auch als Vorgriff auf Edward Elgars ersten Pomp and Circumstance March hören. Der Dirigent lädt den Satz mit Spannung auf und macht ihn zugleich nicht nur zum Schlusssatz der 1. Symphonie, sondern gleichsam des ganzen zweitägigen Zyklus. Brausender Applaus.
In seiner Jugend hat Johannes Brahms daran gezweifelt, dass es möglich sei, nach Beethoven eine Symphonie zu komponieren. Heute wissen wir es besser. Von dem Beitrag, den Brahms zu dieser Korrektur geleistet hat, haben die beiden Meister-Konzerte ein überzeugendes Bild vermittelt. Schade, dass Brahms nur vier Symphonien geschrieben hat. Auf jeden Sonntag und Montag folgt ein Dienstag.
|
Thomas Rothschild – 18. Juli 2023 ID 14295
BRAHMS-ZYKLUS (Liederhalle, 16./17.07.2023)
Johannes Brahms: Sinfonie Nr. 2 D-Dur, op. 73
- Sinfonie Nr. 4 e-Moll, op. 98
- Sinfonie Nr. 3 F-Dur, op. 90
- Sinfonie Nr. 1 c-Moll, op. 68
Staatsorchester Stuttgart
Dirigent: Cornelius Meister
Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsoper-stuttgart.de/staatsorchester
Post an Dr. Thomas Rothschild
Ballett | Performance | Tanztheater
Konzerte
Musiktheater
Neue Musik
ROTHSCHILDS KOLUMNEN
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeigen:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
BALLETT | PERFORMANCE | TANZTHEATER
CASTORFOPERN
CD / DVD
INTERVIEWS
KONZERTKRITIKEN
LEUTE
NEUE MUSIK
PREMIERENKRITIKEN
ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|