Herbert
Blomstedt
(97)
mit Bruckners Neunter
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Herbert Blomstedt | Bild: JM Pietsch
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Herbert Blomstedt ist mit seinen 97 (!) Jahren zweifelsfrei der Nestor unter den aktiv ihren Beruf ausübenden Kapellmeistern. Ich erlebte ihn das erste Mal "in live", als ich (kaum 16 oder 17 Jahre jung) ihn Mozarts Entführung aus dem Serail dirigieren sah, da stand er im Orchestergraben des Dresdner Schauspielhauses, der damaligen Spielstätte der Sächsischen Staatsoper; die Semperoper wurde erst neun Jahre später wiedereingeweiht. Blomstedt übte zu dieser Zeit (1975-1985) das Amt des Chefdirigenten der Staatskapelle Dresden aus. Die DDR leistete sich ihn, weil sie genau wusste, dass mit ihm das traditionsreiche und weltweit gefragte Orchester allem Anschein nach noch mehr, noch weiter strahlen würde als es so schon - und fernab jedwedem gesellschaftlichen Systems, in dem es während seiner über 475-jährigen Geschichte existierte (Wagner, der mit ihr drei seiner Opern uraufführte, bezeichnete sie als "Wunderharfe") - strahlte. Es gibt unzählige Schallplatteneinspielungen der Staatskapelle aus der Dresdner Blomstedt-Ära.
Der in Springfield/ Massachusetts geborene schwedische Dirigent war (nach seiner Dresdner Zeit) zehn Jahre lang Music Director der San Fransisco Symphony. 1996-98 war er kurzmal Chefdirigent des NDR Sinfonieorchesters - bis er (als Nachfolger von Kurt Masur) nach Sachsen zurückkehrte und von 1998 bis 2005 als Gewandhauskapellmeister in Leipzig amtierte. Danach (da war er bereits 78!) wirkte er "frei"; und es gab und gibt kaum ein bedeutendes Orchester weltweit, das er noch nicht dirigiert haben würde.
In Berlin war/ ist er seither so präsent wie kaum ein anderer Kollege von ihm; sowohl die Berliner Philharmoniker als auch die Staatskapelle Berlin oder das Deutsche Symphonie-Orchester buchten und buchen ihn immer wieder gern.
Besonders mit dem kompositorischen Werk von Anton Bruckner (1824-1896) ist er untrennbar verbunden, und zwar außerordentlich:
"Ich halte ihn für den größten Symphoniker seit Beethoven.
[...]
So religiös er auch war: Sein Glaubensbekenntnis ist die Musik, die Dreifaltigkeit existiert in diesen Momenten nur im Hintergrund.
[...]
Bruckner hat eine hoch emotionale Musik geschrieben, und der Klang ist enorm sinnlich. Gleichzeitig ist dies eine hochintelligente Musik, in der gewissermaßen mehrere Relativitätstheorien verborgen sind. Bruckners Werke sind von einem überragenden Intellekt getragen, aber – und das ist so wunderbar an ihm – wenn es erforderlich ist, kann er sich auch ganz einfach ausdrücken."
(Aus einem Interview mit Tobias Möller, das er mit Herbert Blomstedt in der Konzertsaison 2021/22 führte)
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Gestern Abend war er also abermals am Pult bei den Berliner Philharmoniker zu Gast und dirigierte Mozarts 20. Klavierkonzert und Bruckners 9. Sinfonie - zuletzt erlebte ich ihn mit dem letztgenanntem Werk vor 16 Jahren bei einem DSO-Konzert im Großen Sendesaal des rbb.
Blomstedt ließ sich von Leif Ove Andsnes, den Pianisten des Abends, unterhaken, so geleitet und gestützt betrat er langsam, vorsichtig den Saal; als Sitzgelegenheit beim Dirigieren stand eine rückenlehnenlose Klavierbank parat, sie sah aus wie das Zwillingsmöbel vor Andsnes' Steinwayflügel.
Jedesmal, wenn Blomstedt beispielsweise Beethoven und dessen unmittelbaren Vorläufer Mozart, selbst auch den viel später auf den Plan gerückten Schubert "für mich" dirigierte, gab es spirituelle Leichtigkeit und diesseitige Lebensfreude zu erfühlen; seine Herangehensweise an Werke dieser von ihm immer wieder bevorzugten Komponisten war und ist von einer geradezu vegetarischen Unbelastetheit, und ich war immer wieder frohgemut und frohgestimmt, nachdem ich sie, auch wegen all der hochpenibelsten Detailversessenheiten, die er ihnen schuldig zu seien scheint, gehört hatte - genauso war es dieses Mal.
Mein absolutes Highlight freilich: Bruckners Neunte!
Blomstedt leitete sie ohne Dirigentenstab. Seine zwei Hände arbeiteten eindeutig, unmissverständlich, ja und jeder auch nur kleinste Fingerzeig kam daher treffsicher bei all den jeweiligen Adressaten im Orchester an. Am überraschend eindrücklichsten nahm sich seine Interpretation des zweiten Satzes aus: Und nicht etwa als Scherzo, wie man laut der Satzbezeichnung hätte meinen müssen, kam er zu uns rüber - nein, vielmehr als eine seine Feinde niederwälzende Horde von meuchelmordenden Orks; das klang schon aggressiv und schüchterte auf das Gewalttägigste ein. Die Philharmoniker ließen sich überzeugt und lustvoll auf so eine völlig "unartige" Sicht der Dinge ein. (In der Werkeinführung vor Konzertbeginn stellte Susanne Stähr die unleugbare These in den Raum, dass es sich u.U. bei diesen komponierten Exzessen gar um unversteckte "Rachefantasien" Bruckners, dessen Persönlichkeit Zeit seines Lebens unter permanenten Demütigungsattacken von woanders her gestanden hatte, gehandelt haben könnte; nicht übel ausgedrückt.)
Versöhnlich, verebbend und verklärend dann das nach ihm süchtig machende Adagio dieser unvollendet gebliebenen Sinfonie - mit jenem von den vier (von acht) Hornisten der Berliner Philharmoniker astrein gespielten unisonen Wagnertuben-Ausklang.
Anschließend minutenlange Atemstille, und kein Mucks im Saal.
Erst später aufbrausender Beifall und Standing Ovations.
Unvergesslich alles das.
Bewertung:
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Bruckners Neunte mit Herbert Blomstedt und den Berliner Philharmonikern - am 19. Dezember 2024 in der Philharmonie Berlin | Foto (C) Monika Rittershaus
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Andre Sokolowski - 20. Dezember 2024 ID 15073
BERLINER PHILHARMONIKER (Philharmonie Berlin, 19.12.2024)
Wolfgang Amadeus Mozart: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 20 d-Moll KV 466
Anton Bruckner: Symphonie Nr. 9 d-Moll
Leif Ove Andsnes, Klavier
Berliner Philharmoniker
Dirigent: Herbert Blomstedt
Weitere Infos siehe auch: https://www.berliner-philharmoniker.de
https://www.andre-sokolowski.de
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