Über die verlassenen Geliebten
oder Menschen als Kanonenfutter
Marie Seidler & Wolfram Rieger: LIEDER VON KRIEG UND FRIEDEN, im Berliner Pierre Boulez Saal
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Bewertung:
Einem der durchdachtesten und anrührendsten Liederabenden der letzten Jahre galt es gestern Abend im Berliner Pierre Boulez Saal beizuwohnen.
Die Mezzosopranistin Marie Seidler und ihr Klavierbegleiter Wolfram Rieger präsentierten zwanzig "Lieder von Krieg und Frieden" (so der programmatische Titel ihrer Zusammenstellung), von denen mir Zuhörer nicht einmal 25 Prozent bekannt oder geläufig sein durften. Allenthalben bei der Auswahl des deutschsprachigen Blocks mit Liedern von Gustav Mahler, Hanns Eisler und Kurt Weill machte es in mir sofort bei Mahlers Urlicht (aus der 2. Sinfonie), dem "Graben" von Eisler oder den beiden Brecht-Songs aus der Dreigroschenoper (dem sog. Barbara-Song) und "Surabaya-Johnny" aus Happy End, beide von Weill, erinnernd Klick. Alle anderen Werke, davon jeweils fünf in französischer und englischer sowie eins in russischer Sprache, wollten von mir erstentdeckt werden; und die im Programmheft mitgelieferten jeweiligen Übersetzungen der elf fremdsprachigen Gedichte, quasi zum Mitlesen, erwiesen sich in dem Zusammenhang als über alle Maßen nützlich.
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Ich weiß nicht mehr, auf welchem Sender ich das neulich sah:
Die Interviewerin der kurzen Kriegsreportage vor der ukrainischen Front sprach mit einem über 50-jährigen Soldaten, der zusammen mit andern Gleichaltrigen kürzlich "eingezogen" wurde, und man sah ihm, bei allem emotionalen Patriotismus, den er in die Kamera bemüht war zu vermitteln, an, wie traurig und verzweifelt er sich fühlte; und seine Augen wurden feucht, als er von seiner Frau und seinen Kindern und seiner Mutter, die er allesamt zurücklassen musste, zu erzählen begann.
Der Ukraine mangelt es derzeit nicht nur an Munition und Waffen aller Art, auch ihre "menschlichen Ressourcen" sind nicht unendlich.
Eine ähnlich traurige wie verzweifelte Situation hätte die Kriegsreporterin von der anderen Seite der Front - sofern ihr das vom russischen Regime gestattet worden wäre - filmisch einfangen können.
Fakt ist, dass all die Menschen, die dieser barbarische Krieg seit mehr als zwei Jahren verschleißt und vernichtet, vorher nicht um Erlaubnis gefragt werden, ob sie bei diesem gegenseitigen Vernichtungsirrsinn "mit dabei sein wollen". Und es war wohl immer so und wird auch immer so sein, dass die große Politik mit ihren Staatenlenkern sowie Parlamenten oder Pseudoparlamenten alles das für sie entscheidet; kurzum: am Ende staken alle über Leichen, Leichen, Leichen...
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Marie Seidler stand am Anfang ein paar Treppenstufen höher also oberhalb und etwas weiter weg vom Steinwayflügel, an dem Wolfram Rieger saß, vor einem Notenpult und sang Mussorgskis Der Feldherr (aus dessen Liedern und Tänzen des Todes) - selbiger erscheint am Schluss eines endlos und unter menschlichen wie materiellen Verlusten verlaufenden Kriegsgemetzels wie ein Todesengel, der dahergeschwebt kam dieses Schlachtfeld zu beseelen, zu befrieden; freilich viel zu spät. Alle und alles rings umher sind nämlich tot.
Fast nahtlos - ohne dass Seidler & Rieger für diesen erschüternden Mussorgski Beifall zugelassen haben wollten - ging es über in den Mahler-Block mit seinen spätromantischen Verlautbarungen aus Des Knaben Wunderhorn. Verluste im Kleinen wie im Großen wurden da laut; während die Jungen und die Männer in diverse Kriege zogen oder ziehen, blieben oder bleiben ihre Liebsten weinend zurück.
Ähnlich verlustreich, was das Zwischenmenschliche so angeht, sind die kriegerischen Lieder auf Französisch angelegt. Francis Polenc vertonte ein vergebliches Friedensgebet (nach einem Text von Charles d'Orléons aus dem 14. Jahrhundert) und mokierte sich über den Bleuet (dt.: "Grünling"), der mit wehenden Fahnen in den Krieg gezogen war und dort unrühmlich fiel. Henri Duparc beschrieb ein "Land, wo Krieg ist" (Au pays où se fait la guerre). Und Maurice Ravel berichtete von "drei schönen Vögeln aus dem Paradies" (Trois beaux oiseaux de paradis), während zur gleichen Zeit sein/ dein/ mein Freund im Kriege weilte und verstarb.
Der englischsprachige Block umfasste Lieder von Charles Ives (Tom Sails Away und In Flanders Fields), Samuel Barber (I Hear an Army), Ethel Smyth (The Clown) und des 1955 geborenen Komponisten Lori Laitman (She Died auf ein Gedicht von Emily Dickinson); auch hier ging es um Kriegsgeschehen und Verlustängste der Angehörigen.
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Marie Seidler und Wolfram Rieger bei einem früheren Liederabend im Pierre Boulez Saal | Foto (C) Peter Adamik; Bildquelle: boulezsaal.de
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Seidler & Rieger ließen sich im Anschluss ihres Themenabends zu zwei Zugaben nicht lange bitten - und so hörten wir zudem ein Wiegenlied von Manuel de Falla und das allbekannte und -beliebte Brahms'sche "Guten Abend, gut' Nacht".
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Andre Sokolowski - 17. März 2024 ID 14665
LIEDER VON KRIEG UND FRIEDEN (Pierre Boulez Saal, 16.03.2024)
Modest Mussorgsky: Der Feldherr (Golenischtschew-Kutusow) - aus Lieder und Tänze des Todes
Gustav Mahler: Wo die schönen Trompeten blasen
- Nicht wiedersehen
- Das irdische Leben
- Urlicht - aus Des Knaben Wunderhorn
Francis Poulenc: Priez pour paix (d’Orléans)
- Bleuet (Apollinaire)
Henri Duparc: Au pays où se fait la guerre (Gautier)
Maurice Ravel: Trois beaux oiseaux du paradis (Ravel) - aus Trois Chansons
Charles Ives: Tom Sails Away (Ives)
- In Flanders Fields (McCrae)
Samuel Barber: I Hear an Army (Joyce)
Ethel Smyth: The Clown (Baring)
Lori Laitman: She Died (Dickinson)
Hanns Eisler: Kriegslied eines Kindes
- Ändere die Welt, sie braucht es (Brecht)
- Der Graben (Tucholsky)
Kurt Weill: Barbara-Song (Brecht) - aus Dreigroschenoper
Surabaya-Johnny (Brecht) - aus Happy End
Barbara (Monique Andrée Serf): Göttingen
Marie Seidler, Mezzosopran
Wolfram Rieger, Klavier
Weitere Infos siehe auch: https://www.boulezsaal.de
https://www.andre-sokolowski.de
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