Privat und
Katastrophe
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V.l.n.r.: Bianca Andrew (als Bonté), Bianca Tognocchi (als Beauté), Judita Nagyová (als Souffrance) und Anna Gabler (als Vérité) in Guercœur von Albéric Magnard - an der Oper Frankfurt | Foto (C) Barbara Aumüller
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Bewertung:
Zum dritten Mal hintereinander (!) - und zum achten Male insgesamt - kreierte die Fachzeitschrift Opernwelt die OPER FRANKFURT zum "Opernhaus des Jahres" - das hatte und hat berechtigte Gründe. Und zieht man ihre aktuelle Mega-Produktion Guercœur (mit) in Betracht, so könnte es gut sein, dass sie im nächsten Jahr zur gleichen Zeit erneut mit dieser Auserwähltheit punktet.
Gestern Abend sahen wir die zweite Vorstellung nach der Premiere (Inszenierung: David Hermann), und das Haus war ausverkauft und die Begeisterung sprich Zustimmung immens.
Womit anfangen?
Vielleicht am besten erstmal mit dem Komponisten, den bisher wohl (nicht nur hierzulande) kaum wer kannte:
"Albéric Magnard war Sohn von Francis Magnard (1837-1894), Bestsellerautor und Herausgeber von Le Figaro, und Émilie Bauduer. 1869 verlor er seine Mutter durch Suizid. Nach dem Militärdienst und einem Abschluss an der juristischen Fakultät ging er an das Pariser Conservatoire, wo er ab 1886 Kontrapunkt bei Théodore Dubois studierte und in die Klasse von Jules Massenet kam. 1888 erhielt er einen ersten Preis in Harmonielehre.
[...]
Durch das Vermögen seines Vaters war er finanziell gesichert: Unabhängig, auf keine musikalischen Kompromisse angewiesen und auch nicht dazu bereit, hatte er jahrelang größte Schwierigkeiten, seine Kompositionen zur Aufführung zu bringen. Sein Freund Guy Ropartz, seit 1894 Leiter des Konservatoriums in Nancy, führte mehrere seiner Werke auf. 1899 veranstaltete Magnard ein Konzert ganz auf eigene Kosten, 1902 begann er, seine Werke auch selbst zu drucken (opus 8 bis opus 20), was zu großen Verlusten beim Brand seines Hauses 1914 führen sollte. In der Dreyfus-Affäre stellte sich Magnard auf die Seite von Émile Zola und komponierte in diesem Zusammenhang 1902 das Orchesterwerk Hymne à la Justice.
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs schickte Magnard seine Frau mit den beiden Töchtern an einen sicheren Ort, während er auf dem von ihm seit 1904 bewohnten Anwesen Manoir de Fontaines in Baron blieb. Als eine deutsche Aufklärungspatrouille es betrat, schoss er auf sie und tötete einen Soldaten. Die deutschen Soldaten feuerten zurück und setzten das Haus in Brand. Magnard kam dabei um, sein Körper konnte in der Ruine später nicht mehr identifiziert werden. Das Feuer zerstörte auch Magnards unveröffentlichte Partituren, etwa die frühe Oper Yolande, zwei Akte von Guercœur sowie einen später komponierten Liederzyklus. Ropartz, der 1908 den ersten Akt von Guercœur aufgeführt hatte, rekonstruierte aus dem Gedächtnis die verlorenen Akte und führte das Werk erstmals am 24. April 1931 im Palais Garnier der Pariser Oper vollständig auf. Erst 2019 brachte das Theater Osnabrück die Oper erneut szenisch zur Aufführung. Die erste französische szenische Produktion nach der Uraufführung hatte am 28. April 2024 an der Opéra du Rhin in Straßburg Premiere."
(Quelle: Wikipedia)
Und jetzt zum Werk an sich:
"Guercœur findet im Jenseits keine Ruhe und sehnt sich zurück auf die Erde – zu seiner großen Liebe Giselle und zu seinem Volk, das er einst in die Freiheit geführt hatte...
Die vier Gottheiten Vérité, Bonté, Beauté und Souffrance erfüllen Guercœur seinen Wunsch. Doch die Welt hat sich inzwischen weiter gedreht: Giselle, die ihm ewige Treue geschworen hatte, ist eine Liebesbeziehung mit Guercœurs Schüler Heurtal eingegangen. Dieser hat sich von den Idealen der Freiheit und der Liebe abgewandt und ist dabei, sich zum Diktator aufzuschwingen. Das hungerleidende Volk ist gespalten. Es kommt zu gewalttätigen Ausschreitungen, die die Grundfesten der jungen Demokratie bedrohen."
(Quelle: oper-frankfurt.de)
Aber genug zitiert.
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Parlamentssitzung in Guercœur von Albéric Magnard - an der Oper Frankfurt | Foto (C) Barbara Aumüller
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Ausufernde Parlamentssitzung in Guercœur von Albéric Magnard - an der Oper Frankfurt | Foto (C) Barbara Aumüller
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Zerstörungen nach der ausgeuferten Parlamentssitzung in Guercœur von Albéric Magnard - an der Oper Frankfurt | Foto (C) Barbara Aumüller
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Also:
In der Haupt- oder Zentralszene der fast vierstündigen Oper (Bühnenbild: Jo Schramm) werden wir Augen- und Ohrenzeugen einer parlamentarischen Entgleisung, wie sie sich auch nicht mal hundert Jahre später kurz vor einer totalitären Machtergreifung ereignet hatte oder auch in (naher?) Zukunft wieder ereignet haben könnte. Eine (demokratisch gewählte?) Fraktion, die vorher nicht oder nur relativ unterbelichtet im Parlament vertreten war, erobert jetzt in bedeutender(er) Stärke ihre ihr angeblich zustehenden Sitze und zeigt von da ab ihr wahres und demokratiezerstörerisches Gesicht; ihr selbsterklärter Diktator (AJ Glueckert als Heurtal, der einstmalige Schüler von Guercœur) tritt auf und führt das Wort - es ist nicht klar, ob sie die zurückliegende Wahl gewonnen oder auch bloß angefochten hat; vielleicht hat sie sich auch bar jeglicher Legitimation gewaltsam Zutritt in das Parlament verschafft. Es kommt zu ersten Handgreiflichkeiten, dann entwickeln die übereinander her fallenden Menschengruppen eine gewaltbereite und Gewalt ausübende Eigendynamik - bis ein Buhmann für das alles ausgemacht und von der Masse festgehalten und letztlich gelyncht wird; es handelt sich hierbei um den titelgebenden Guercœur (Domen Križaj), der der Vorgänger "im Amt" gewesen war.
Und sofort schrillen die unterbewusstesten Alarmglocken in mancherlei Gehirn, denn "so was" hatten wir doch in der Tat schon mal, anno 1933 in Berlin; und "so was" sollte vor vier Jahren auch in Washington DC passieren.
Ja, da stockte einem schon der Atem!
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Vor und nach dieser Schlüsselszene plätschert die Handlung mehr oder weniger langweilig im seligen Himmelreich dahin, wo der Titelheld vor und nach seinem (zweiten) Tod von vier seligen Göttinnen - Bianca Andrew (als Bonté), Bianca Tognocchi (als Beauté), Judita Nagyová (als Souffrance) und Anna Gabler (als Vérité) - betreut wird. Von den Viern ist schließlich ein betörend schönes Quartett zu vernehmen, bei dem sich die Stimme von Bianca T. als am betörendsten manifestiert.
Auch gibt es eine Gattinnen- und Gattengeschichte zu verfolgen: Claudia Mahnke (als Giselle) hatte sich während der seligen Auszeit ihres de facto verstorbenen Gatten inzwischen für einen neuen Beischläfer entschieden - und als der vormals Angetraute, nach seliger Wiederbelebung, seines Nachfolgers (= Heurtal) angesichtig wurde, war die Butter braun...
* * *
Der Chor der Oper Frankfurt war der eigentliche Hauptstar der von Takeshi Moriuchi dirigierten und vom Frankfurter Opern- und Museumsorchester musizierten Aufführung.
Spektakulär!!
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Andre Sokolowski - 9. Februar 2025 ID 15142
GUERCEUR (Oper Frankfurt, 08.02.2025)
Musikalische Leitung: Takeshi Moriuchi (für Marie Jacquot)
Inszenierung: David Hermann
Bühnenbild: Jo Schramm
Kostüme: Sibylle Wallum
Licht: Joachim Klein
Chor: Virginie Déjos
Dramaturgie: Mareike Wink
Besetzung:
Guercœur ... Domen Križaj
Giselle ... Claudia Mahnke
Heurtal ... AJ Glueckert
Vérité ... Anna Gabler
Bonté ... Cecelia Hall
Beauté ... Bianca Tognocchi
Souffrance ... Judita Nagyová
Schatten eines jungen Mädchens ... Julia Stuart
Schatten einer Frau ... Cláudia Ribas
Schatten eines Poeten ... Istvan Balota
Chor der Oper Frankfurt
Frankfurter Opern- und Museumsorchester
Premiere war am 2. Februar 2025.
Weitere Termine: 13., 16., 21., 23.02./ 01., 08.03.2025
Weitere Infos siehe auch: https://oper-frankfurt.de
https://www.andre-sokolowski.de
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