Überwagnert
777 / DIE SIEBEN TODSÜNDEN - ein Musikdrama nach Adalbert Goldschmidt
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Sophie Rois in 777/ Die sieben Todsünden, dem Musikdrama nach Adalbert Goldschmidt - in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz | Foto (C) Johannes Jost
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Bewertung:
Von einem irrwitzig-maßlosen musiktheatralischen Großprojekt, das (leider nur) gestern und heute in der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz stattfand, muss wie folgt Bericht erstattet werden - doch wo anfangen, wo aufhören; also:
Zum ersten Mal wurde seit seiner grandiosen Berliner Uraufführung vor 141 Jahren das geradezu größenwahnsinnig anmutende Monster-Oratorium Die sieben Todsünden des österreichischen Komponisten, Dichers und Satirikers Adalbert von Goldschmidt (1848-1906) wiederaufgeführt.
"In gewaltigen Tableaus mit Soli, Chor und Orchester vollbringen in diesem Musikdrama die Dämonen der sieben Todsünden ihr Vernichtungswerk und zeigen auf ihrer Fahrt durch das Panoptikum des Praters, woran das Abendland zugrunde gehen wird: an Nationalismus und Kriegslust, Antisemitismus und Kolonialismus, Börsenrausch und Mechanisierung, kapitalistischem Exzess und narzisstischer Selbstoptimierung.
Wer kann diesen Vorgang aufhalten? Der Dichterkomponist war sich sicher: die Kunst.
Doch dagegen formierte sich politischer Widerstand: Ausgerechnet ein jüdischer Komponist und Sohn aus dem Wiener Haus Rothschild-Goldschmidt sollte die Nachfolge Richard Wagners antreten und zum Propheten der Moderne werden?
Das wussten die Antisemiten, die sich um 1880 in Wien erstmals als politische Partei formierten, erfolgreich zu verhindern. Goldschmidt starb 1906 verarmt und unbekannt in einem Sanatorium. Keines seiner großen Werke wurde seither wieder aufgeführt.
Ob es an der Zeit ist, diesen Sündenbock der Musikgeschichte von seinem Fluch zu befreien?"
(Quelle: volksbuehne.berlin)
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Adalbert von Goldschmidt | Bildquelle: Wikipedia
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60 Orchestermusiker (Kammersymphonie Berlin), 142 Choristinnen und Choristen [alle Chöre s.u.], 8 schauspielernde und 7 singende Akteurinnen und Akteure waren bei diesem musik- und sprechtheatralischen Misch-Projekt für eine pausenlose Gesamtspieldauer von fast 3 Stunden personell aufgestellt. Die musikalische Leitung lag in den Händen von Kai-Uwe Jirka (seines Zeichens "Doppel"-Leiter sowohl der Singakademie zu Berlin als auch des Staats- und Domchors Berlin), den Text der Sprecheinlagen als auch die Regie besorgte Christian Filips - beide, Jirka & Filips, hatten als kreatives Duo bereits ähnliche Ausgrabungen oder Neuwiederbelebungen in der jüngeren Vergangenheit vorgenommen; in der Volksbühne waren sie, um nur ein Beispiel zu nennen, zuletzt mit Bernd Alois Zimmermanns Des Menschen Unterhaltsprozess gegen Gott präsent.
So vom Gefühl her erfolgte die Gesamt-Darreichung im Verhältnis 7:1, und zwar zugunsten des Goldschmidt'schen Super-Opus, heißt: Ich als bevorzugtermaßen opern- wie konzertgeschulter Gern- und Ofthörer "sah" - nach jenem kurzweiligen aber (für die Ohren) einigermaßen strapaziös empfund'nen Liveerlebnis - den bis heute vorherrschenden Allgemeinvorwurf an den Verursacher des mit absoluter Überwagnerung durchschwängerten Stücks bestätigt. Die sieben Todsünden sollten das Totalitäre des Wagner'schen Gesamtkunstwerkes übersteigern, um nicht zu sagen übertreffen. Dieser ambitionierte Wahnwitz konnte freilich nicht obsiegen. Goldschmidts Musik klang/ klingt zwar "ungefähr wie Wagner", am Ende aber irgendwie mehr (wagner-)gequält und letzten Endes unvollkommen; sie ist einfach gesichtslos - Hugo Wolff oder Franz Liszt verteidigten demgegenüber Goldschmidts Oratorium; es war übrigens fast zeitgleich mit der Erstaufführung des gesamten Wagner-RINGs in Bayreuth entstanden.
Um die sinnstiftende Kommentierung bzw. unterhaltende Auflockerung des anstrengenden Musikbrockens kümmerten sich Sophie Rois (als Baron von Goldschmidt und Fürst der Finsternis), Margarita Breitkreiz (als Pariser Communardin), Ariel Nil Levy (als Theodor Herzl), Susanne Bredehöft (als Wagners Tochter) und Silvia Rieger (als Richard Wagner). In ihren Texten ging es um die zeitgeschichtliche Entstehung und Entwicklung der Sieben Todsünden, aber auch um ihren Schöpfer im Umfeld seiner ihn sowohl verehrenden als auch verachtenden Mit-Menschen. Das alles beherrschende Thema des europäischen Antisemitismus kommt klug und unter größtmöglicher Aufbietung jüdischem Witzes zur Sprache; Galgenhumor vom Feinsten.
Das solistische Aufgebot insbesondere in den Rollen der sieben Todsünden konnte sich hören lassen: Arttu Kataja (als Trägheit), Benjamin Bruns (als Habsucht), Christoph Pfaller (als Völlerei), Sara Gouzy (als Hoffarth und Neid), Gerrit Illenberger (als Zorn) und Mima Millo (als Böse Lust).
Und sowieso und auch die Chöre, das Orchester: sensationell gut!!
Den spektakulären Bühnenraum und die teils farbenprächtigen Kostüme kreierte Daniela Zorrozua.
Für die stets passenden und zum Gesamtverständnis durchaus brauchbaren Videos (auf der Hinter- und Seitenbühne) zeichnete Adrian Terzic verantwortlich.
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Blick auf die Totale von 777/ Die sieben Todsünden, dem Musikdrama nach Adalbert Goldschmidt - in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz | Foto (C) Johannes Jost
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Auch gab und gibt es einen programmbegleitenden halbstündigen Film, den der Dramaturg Sebastian Kaiser erstellte - er ist auf Youtube abrufbar und sehr, sehr zu empfehlen!
Tosende Begeisterung.
(Völlig unverständlich, dass das Großprojekt keine Mehr-Nutzer fand oder findet; und mir kam in dem Zusammenhang sofort die RUHTRIENNALE in den Sinn, wo sowas vielleicht gern in einer ihrer museal gewordenen Fabrikhallen oder anderswo veranstaltet bzw. mitveranstaltet würde.)
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Andre Sokolowski - 30. November 2024 ID 15035
777 / DIE SIEBEN TODSÜNDEN (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, 29.11.2024)
Ein Musikdrama nach Adalbert Goldschmidt
Musikalische Leitung: Kai-Uwe Jirka
Text & Regie: Christian Filips
Bühne & Kostüme: Daniela Zorrozua
Licht: Frank Novak
Video: Adrian Terzic
Dramaturgie: Sabine Zielke
Programmvideo: Sebastian Kaiser
Mit: Sophie Rois (als Baron von Goldschmidt und Fürst der Finsternis), Margarita Breitkreiz (als Pariser Communardin), Ariel Nil Levy (als Theodor Herzl), Susanne Bredehöft (als Wagners Tochter), Silvia Rieger (als Richard Wagner), Balthazar Gyan Alexis Kuppuswamy (als Zauberlehrling im Wurstprater) sowie den Sängerinnen und Sängern der Sieben Todsünden, nämlich Arttu Kataja (als Trägheit), Benjamin Bruns (als Habsucht), Christoph Pfaller (als Völlerei), Sara Gouzy (als Hoffarth und Neid), Gerrit Illenberger (als Zorn) und Mima Millo (als Böse Lust) als auch M. Milo (als Jungfrau, Letzter Mensch und Königin der Nacht) und Yury Makhrov (als Jüngling und Letzter Mensch)
Haupt- und Mädchenchor der Sing-Akademie zu Berlin
Kapellchor & Cambiata sowie die Männer des Staats- und Domchores Berlin
Kammersymphonie Berlin
Termine waren der 29. und 30. November 2024.
Weitere Infos siehe auch: https://www.volksbuehne.berlin
https://www.andre-sokolowski.de
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