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Premierenkritik

Eine Königin zu viel

ANNA BOLENA an der Deutschen Oper Berlin

Bewertung:    



Falls ich das jetzt (in gebotener Eile) richtig recherchiert haben sollte, hatte Heinrich VIII. (1491-1547) sechs Frauen - Katharina von Aragon, Anne Boleyn, Jane Seymour, Anne von Kleve, Kathrin Howard, Katherine Parr - von denen er die zweite und die fünfte dem Scharfrichter überantwortete, die dritte war "normal" gestorben, die erste an Krebs, die vierte ließ sich von ihm scheiden, und die sechste überlebte ihn.

Riccardo Fasssi, der den hochpotenten König - in der italienischsprachigen Donizetti-Oper Anna Bolena wird er als Enrico VIII. gelistet - gestern Abend in der DOB erstmals verkörpert, sieht natürlich viel, viel besser aus als sein historisches Vorbild; er ist vom Typ her so was wie ein "Shakespeare in Love", und wahrscheinlich singt er auch viel besser als das Original, obgleich man freilich nicht weiß, wie es gesungen haben könnte.

Jedenfalls:



"Mit diesem Werk gelang es dem 33-jährigen Gaetano Donizetti, aus dem Schatten Rossinis herauszutreten und dessen brillanter vokaler Virtuosität einen neuen, dramatisch expressiveren Stil entgegenzusetzen. Als Grundlage hatten sich Donizetti und Felice Romani, der bedeutendste Operntext-Autor seiner Zeit, einen der tragischsten und mithin auch wirkungsvollsten Stoffe der britischen Geschichte ausgesucht: den Prozess wegen angeblicher Untreue, mit dem der englische König Heinrich VIII. die Scheidung von seiner zweiten Frau Anne Boleyn betrieb und der mit der Hinrichtung der Königin endete. Damit befriedigten Donizetti und Romani einerseits die steigende Nachfrage nach 'echten', historisch verbürgten Stoffen, knüpften andererseits aber auch an die durch die Romane Walter Scotts ausgelöste Mode an, die England und Schottland als Hort blutrünstiger, tragischer Historiendramen etabliert hatten." (Quelle: deutscheoperberlin.de)


*

Die Produktion stammt aus Zürich und hatte dort bereits vor zwei Jahren Premiere, eine Übernahme also. Die Inszenierung von David Alden [s. auch Peter Grimes, 2013; Billy Budd, 2014; Die Hugenotten, 2016] hat einen vorzüglich altmodischen Touch, will dennoch "modern" sein, wirkt daher irgendwie unentschieden und bemüht, kurzum, sie ist total vergessenswert; und wir verlieren uns an dieser Stelle auch nicht weiter groß mit ihr.

Das allenthalben Markante der Berliner Aufführung von gestern Abend ist ihre musikalische Qualität - in Einschränkungen freilich, aber immerhin:

Federica Lombardi und Vasilisa Berzhanskaya sind als Protagonistinnen-Paar Anna Bolena & Giovanna Seymour (Annas Nachfolgerin auf dem Königinnenthron) besetzt. Ja und obwohl ich mich beinahe nicht entscheiden wollte, wer die "bessere" von beiden ist, tendiere ich zur Zweitgenannten. Ihr gigantisches Duett kurz nach der Pause gerät zum absoluten Höhepunkt des quälend langen Abends, und das Publikum scheint völlig aus dem Häuschen. Zum Schluss hingegen - Annas "Wahnsinnsszene" - konstatiere ich eine für diesen Auftritt relativ gesundgebliebene Verfassung der dem Tod Geweihten; und sofort vergleiche ich, fast zwanghaft, die Lombardi mit der Gruberová, welche ihrerseits dem immer wieder völlig Durchgeknallten solcher merkwürdigen Schlussszenen, v.a. durch bewusstes (stimmtechnisches!) Einbringen stimmlicher Hässlichkeiten, adäquater noch entsprach - Lombardi ihrerseits wirkt viel zu sehr "gesund"; das war und ist wahrscheinlich ihr derzeitiges Problem.

Und auch nicht übel: Padraic Rowan (als Lord Rochefort), René Barbera (als Lord Riccardo Percy) und Karis Tucker (in der Hosenrolle des jungen Smeton).

Chance Jonas-O'Toole beeindruckt als der armprothesentragende Scharfrichter Hervey.

Der Chor der Deutschen Oper Berlin (Einstudierung: Jeremy Bines) singt gut und steht zumeist nur sinnlos rum.

Enrique Mazzola hat die musikalische Leitung, die Musikerinnen und Musiker im Orchestergraben spielen unauffällig, aber grundsolide.

Alles in allem:

Lebenszeitraubender Langweiler.




Federica Lombardi (in der Titelrolle) und Riccardo Fassi (als Enrico) in Donizettis Anna Bolena an der Deutschen Oper Berlin | Foto (C) Bettina Stöß

Andre Sokolowski - 16. Dezember 2023
ID 14525
ANNA BOLENA (Deutsche Oper Berlin, 15.12.2023)
Musikalische Leitung: Enrique Mazzola
Inszenierung: David Alden
Bühne und Kostüme: Gideon Davey
Licht: Elfried Roller
Choreografie: Arturo Gama
Video: Robi Voigt
Chöre: Jeremy Bines
Dramaturgie: Michael Küster und Jörg Königsdorf
Besetzung:
Enrico VIII. ... Riccardo Fassi
Anna Bolena ... Federica Lombardi
Giovanna Seymour ... Vasilisa Berzhanskaya
Lord Rochefort ... Padraic Rowan
Lord Riccardo Percy ... René Barbera
Smeton ... Karis Tucker
Sir Hervey ... Chance Jonas-O'Toole
Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin
Premiere im Opernhaus Zürich: 5. Dezember 2021
DOB-Premiere war am 15. Dezember 2023
Weitere Berlin-Termine: 19., 22., 26.12.2023// 11., 16., 19.03.2024
Eine Produktion der Oper Zürich


Weitere Infos siehe auch: https://deutscheoperberlin.de/


https://www.andre-sokolowski.de

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