Vivaldi als
Opern-
komponist,
bitte mehr
davon!
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Il Giustino von Vivaldi an der Staatsoper Unter den Linden | Foto (C) Matthias Baus
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Bewertung:
Die Staatskapelle Berlin steht kurz vor ihrer Asien-Tournee, bei der sie Christian Thielemann dirigieren wird - und immer, wenn sie etwas länger in ihrem Stammhaus abwesend ist, wird meistenfalls Barockmusik im alten Knobelsdorffer Bau geboten; dessen Innenleben (Großer Saal) wurde dann zwar im Zuge seiner Grundsanierung deutlich erweitert und - vor allem, was seine Akustik anbelangte - dem romantischen und spätromantischen Repertoire, womit die Staatskapelle aktuell ja wohl am allermeisten glänzen würde, angepasst, und dennoch scheint es immer wieder hochinteressant zu sein, wie in ihm Alte Musik, vornehmlich aus der Zeit des Früh-, Hoch- oder Spätbarocks, so klingt bzw. klingen mag. Immerhin: Der ursprüngliche Knobelsdorff-Bau wurde seiner Zeit von Friedrich dem Großen in Auftrag gegeben, und der selbst war ja ein glühender Musikliebhaber und Barock-Flötist noch obendrein.
Die diesjährigen BAROCKTAGE (beginnend am 2. Dezember) werfen also jetzt schon ihre Schatten voraus, und Il Giustino von Vivaldi, dessen umjubelte Premiere gestern Abend war, wird selbstverständlich im Programm des alljährlichen Festivals enthalten sein.
"Liebe, Krieg und Gewalt, Erotik, Eifersucht und Intrigen, Machtgier, Mutproben und große Visionen: Mit Il Giustino entwirft Antonio Vivaldi ein actionreiches und affektgeladenes Bühnenspektakel über den Aufstieg des jungen Bauern Giustino an die Spitze der römischen Politik, in dem sich nicht nur byzantinische Heldinnen, sondern auch Bären, Meeresungeheuer und aus Gräbern sprechende Stimmen zu Wort melden.
In den 1920er Jahren ereignete sich die außergewöhnliche Wiederentdeckung einer großen Anzahl der von Vivaldi komponierten Opern, darunter auch Il Giustino. Der Fund der Manuskripte wirft ein neues Licht auf das Schaffen Vivaldis, der vor allem als Komponist von Instrumentalmusik des Barock Bekanntheit erfährt, als Opernkomponist aber weitgehend unbekannt ist. Nahezu einhundert einfallsreiche, kontrastierende Arien und Rezitative umfasst die Partitur, in die Vivaldi kunstvoll Zitate früherer Werke eingewoben hat."
(Quelle: staatsoper-berlin.de)
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An die "einhundert einfallsreiche, kontrastierende Arien und Rezitative" enthielte dieses Werk? Um Gottes Willen, bloß nicht!
Aber keine Angst, dieser Vivaldi hatte jetzt nicht etwa Götterdämmerung-Länge, dafür sorgte schon der für so Alte-Musik-Dinge spezialisierte René Jacobs, der eine optimal musizier- als wie sing-/ spielbare Auswahl des Vivaldi-Konvoluts als "gekürzte und bearbeitete Fassung" vornahm; das Berliner Publikum kennt ja noch (zum Vergleich) den seiner Zeit von Harry Kupfer inszenierten Händel'schen Giustino, womit der Komischen Oper ein Exportschlager par excellence gelang und sie hiermit durch halb Europa tourte.
Zum Vivaldi also:
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Il Giustino von Vivaldi an der Staatsoper Unter den Linden | Foto (C) Matthias Baus
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Qualitativ punktet die Aufführung in erster Linie, was das Musikalische betrifft, "schuld" hieran ist (wen wundert's) die Akademie für Alte Musik Berlin, das Vorzeigeensemble der neuen Bundesländer in puncto historische Aufführungspraxis; Jacobs hat mit ihm schon unzählige Male zusammengearbeitet.
Giustinos traumhaft schöne Arie "Hò nel petto un cor si forte" - um ein Beispiel unzufällig anzuführen - wird von einem Salterio, einer so genannten Kastenzither, deren Saiten entweder gezupft oder geschlagen werden, solistisch begleitet; Franziska Fleischanderl, die dieses selten gespielte Instrument beherrscht, sitzt gleichberechtigt neben dem Sänger auf dem Laufsteg vorm Orchestergraben und spielt ihm artig zu. Klingt irrsinnsschön und dient zudem als echter Hingucker. Auch das Ensemble-Finale "Doppo i nembi e le procelle" am Schluss des Dritten Akts (auch auf dem Laufsteg vorm Orchestergraben) macht dann nicht nur musikalisch, sondern auch rein optisch Spaß; das gesamte sängerische Personal steht aneinandergereiht, singt anbetungswürdig und verbreitet gute Laune.
Das - also das mit der guten Laune - könnte auch die vordergründige Absicht von Barbora Horáková und ihren beiden Ausstattern (dem Bühnenbildner Thilo Ullrich und der Kostümdesignerin Eva-Maria Van Acker) gewesen sein; das fiel dann schon mal auf. Doch mehr als eine gut gemeinte Insgesamt-Verarsche des diesem Vivaldi zugrunde liegenden hochseichten Stücks, zudem ohne erkennbar roten Faden, ist die Inszenierung nicht; die Bühne ähnelt einer Rumpelkammer, die Kostüme wiederum sind derart sehenswert, dass es beinahe schon total bescheuert aussieht.
Zwei hörenswerte Countertenöre befinden sich im permanenten Schlagabtausch: Christoph Dumaux (als Guistino) und Raffaele Pe (als Anastasio) - der eine hat eine enorme Höhe, der andere wirkt stellenweise etwas ältlich, doch von beiden gehen singschauspielernd Permanentimpulse aus. Noch einprägsamer, und sowohl was ihre sängerische als auch schauspielernde Klasse angeht, die vier Frontfrauen der Aufführung: die koloratursicheren Kateryna Kasper (als Arianna) und Robin Johannsen (als Leocasta), die travestiegeübte Helena Rasker (als Frau/Mann Flavia/Andronico) und die kämpferische Olivia Vermeulen (als Amanzio und Fortuna). Nicht zu vergessen: der Tenor Siyabonga Maqungo (als Vitaliano), der mit den meisten Beifall dieses Abends einheimsen konnte.
Musikalisch, wie gesagt, ein Traum.
Szenisch: mehr oder weniger zum Vergessen.
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Andre Sokolowski - 21. November 2022 ID 13922
IL GIUSTINO (Staatsoper Unter den Linden, 20.11.2022)
Musikalische Leitung: René Jacobs
Inszenierung: Barbora Horáková
Bühnenbild: Thilo Ullrich
Kostüme: Eva-Maria Van Acker
Licht: Sascha Zauner
Choreinstudierung: Gerhard Polifka
Kommentartexte Szene: Martin Mutschler
Dramaturgie: Jana Beckmann
Besetzung:
Anastasio ... Raffaele Pe
Arianna ... Kateryna Kasper
Giustino ... Christophe Dumaux
Leocasta ... Robin Johannsen
Vitaliano ... Siyabonga Maqungo
Andronico ... Helena Rasker
Amanzio, Fortuna ... Olivia Vermeulen
Polidarte ... Magnus Dietrich
Staatsopernchor
Akademie für Alte Musik Berlin
Premiere war am 20. November 2022.
Weitere Termine: 22., 25., 27.11./ 02., 06.12.2022
Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsoper-berlin.de/
https://www.andre-sokolowski.de
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