Die Kunst
des Schreitens
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Johannes-Passion an der Staatsoper Stuttgart | Foto (C) Matthias Baus
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Bewertung:
Vor mehr als 17 Jahren hat Ulrich Rasche am Stuttgarter Schauspiel (!) seine Kirchenlieder inszeniert. Das ungewöhnliche Projekt, das mit seinem chorischen Vortrag und mechanisch wirkenden Choreographien am ehesten an Einar Schleef erinnerte, fand begeisterte Anhänger und hasserfüllte Gegner. Rasche ist sich in den seither vergangenen Jahren treu geblieben. Er hat seinen Stil als Regisseur und Bühnenbildner unbeirrt beibehalten, variiert, präzisiert. Und auch Zuspruch wie Ablehnung sind ihm bewahrt geblieben. Es sind nicht die schlechtesten Künstler, die eher polarisieren als sich die laue Zustimmung des Mittelmaßes zu sichern.
Nun ist Ulrich Rasche nach Stuttgart zurückgekehrt, diesmal an die Oper, aber auch, termingerecht zu Ostern, mit einem nicht für die Bühne konzipierten Projekt aus dem kirchlichen Kontext. Er nennt es „Szenisches Oratorium“. Rasche ist nicht der Erste, der Bachs Johannes-Passion visuell erweitert. Peter Sellars hat genau das, nach einem Vorlauf mit der Matthäus-Passion, vor knapp einem Jahrzehnt in Kollaboration mit Sir Simon Rattle getan. Zu Bachs Zeiten war eine szenische Interpretation der Passionen von der Kirche ausdrücklich verboten. Nichts sollte von ihrem sakralen Ernst ablenken. Heute ist ein weltlicher Zugang zu Bach möglich. Man kann seine Musik lieben, auch wenn man nicht gläubig ist. Die These vom immanent religiösen Charakter dieser Musik lässt sich schwer beweisen. Zumal wenn man Intention und Wirkung von einander trennt. Und es fällt nicht schwer, den theatralen Charakter der Bibel zu entdecken. Mit ihrem Wechsel von erzählenden Partien und langen Mono- und Dialogen ist sie geradezu eine Herausforderung für das epische Theater – nicht nur weil Brecht, „Sie werden lachen“, die Bibel bekanntlich als sein Lieblingsbuch benannt hat.
Das Bühnenbild beschränkt sich bei Rasche diesmal auf bis zu vier hochformatige Lichtwände, die herabgesenkt und hochgezogen werden und auf die zwischendurch auch schwarz-weiße, fast abstrakte Fotos projiziert werden. Die die ganze Szene füllende Drehbühne kreist fast ununterbrochen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mal im, mal gegen den Uhrzeigersinn. Die Figuren gehen nicht, sie laufen nicht, sie schreiten, und zwar unabhängig von den Tempi der Musik. Die Grundelemente der Johannes-Passion waren bereits in den Kirchenliedern angelegt.
Nichts in dieser Inszenierung ist mimetisch, illustrativ, weder die Bewegungen, noch die Kostüme, noch die Körperhaltungen sind es. Nie wird der Text visuell verdoppelt. Die Solisten und der Chor verharren im Halbdunkel, sogar im Finstern, oder im Nebel des Gegenlichts. Jesus tritt mit nacktem Oberkörper auf – das gehört zur Ikonographie der Kreuzigung –, aber auch, wie die anderen Rollen, in einer Art hellgrauer Jogginghose.
Musikalisch lassen die Solisten, der Chor und das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von Diego Fasolis nichts zu wünschen übrig. Weniger wäre zu wenig. Die Konkurrenz ist groß. Immerhin werden Bachs Passionen um diese Jahreszeit in zahlreichen Kirchen angeboten. Mit Ulrich Rasches Johannes-Passion hat die Stuttgarter Oper nun ein minimalistischen Gegenstück zu einem aufwendigen Meisterwerk, das jahrelang auf dem Spielplan stand, zu Herbert Wernickes Actus tragicus.
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Johannes-Passion an der Staatsoper Stuttgart | Foto (C) Matthias Baus
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Thomas Rothschild – 3. April 2023 ID 14131
JOHANNES-PASSION (Staatsoper Stuttgart, 02.04.2023)
Musikalische Leitung: Diego Fasolis
Regie & Bühne: Ulrich Rasche
Kostüme: Sara Schwartz und Romy Springsguth
Choreografie: Toni Jessen
Video: Florian Seufert
Licht: Gerrit Jurda
Chor: Manuel Pujol
Dramaturgie: Franz-Erdmann Meyer-Herder
Besetzung:
Evangelist ... Moritz Kallenberg
Jesus ... Shigeo Ishino
Petrus/ Pilatus ... Andreas Wolf
Jesu Gefolgschaft/ Sopran ... Fanie Antonelou
Jesu Gefolgschaft/ Alt ... Alexandra Urquiola
Jesu Gefolgschaft/ Tenor ... Charles Sy
Jesu Gefolgschaft/ Bariton ... Johannes Kammler
Magd, Jesu Ankläger/ Sopran ... Kyriaki Sirlantzi
Jesu Ankläger/ Alt ... Linsey Coppens
Diener, Jesu Ankläger/ Tenor ... Maximilian Vogler
Jesu Ankläger/ Bass ... Andrew Bogard
Bass ... Michael Nagl
Staatsopernchor Stuttgart
Staatsorchester Stuttgart
Premiere war am 2. April 2023.
Weitere Termine: 07., 09., 14., 16., 20., 22., 25., 29.04.2023
Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsoper-stuttgart.de
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