HAUEN UND
STECHEN
inszenierte
Nixon in China
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Nixon in China an der Deutschen Oper Berlin | Foto (C) Thomas Aurin
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Bewertung:
Der Handschlag zwischen Nixon und Mao 1972 in China wurde von Nixon selbst und danach gebetsmühlenartig von den amerikanischen Medien für weitreichender als die Mondlandung verklärt. Am Ende war es (nur) ein diplomatischer Versuch Amerikas, sich an China anzunähern, nachdem die Volksrepublik auf Abstand zur Sowjetunion gegangen war.
Auf Anregung des Regisseur Peter Sellars entstand eine Zeit- oder (amerikanisch gesagt) eine CNN-Oper darüber. John Adams, anfangs ablehnend, fand später Gefallen an der Idee, die Handlung von einer alltäglichen auf eine archetypische Ebene zu heben. Im Dezember 1985 trafen sich Sellars, Adams und Adams Wunsch-Librettistin, die Autorin Alice Goodman. Und wie amerikanisch ist das: Die Librettistin, literarisch zwar umfassend gebildet, hatte keinerlei Erfahrung mit Opern. Adams behauptet von ihr nur ein einziges Gedicht gekannt haben.
Das Libretto von Nixon in China verarbeitet die formalen, von einem Tross an Beratern vorbereiteten Äußerungen der Diplomaten im Weißen Haus in das, was sie sind: leblose Äußerungen von Marionetten eines sich im Vietnamkrieg brutal gebärenden Systems. In Sachen Brutalität steht Mao in nichts nach. Sein „Großer Sprung“ hatte zwischen 1959 und 1962 dreißig bis vierzig Millionen Chinesen das Leben gekostet, zur Zeit des Nixon-Besuches lief die „Große proletarische Kulturrevolution“. Von 1966 bis 1976 ließ Mao Millionen Gegner foltern und ermorden. Die Grundlage war die rote Mao-Bibel, welche die rebellische Jugend Amerikas und Europas seit Ende der 60er Jahre begeistert vor sich herschwenkte. Die westliche Verklärung des China-Bildes hat eine lange Tradition, auch Nixon war davon nicht frei.
Adams Musik bedient sich der Tradition der „weißen Bigbands der Swing-Ära“, die Musik der amerikanischen Mittelklasse. Es dominieren Blech- und Holzbläser, darunter vier Saxofone. Das chinesische Revolutionsballett bezeichnete er als „Technicolor-Partitur“, inspiriert von den grellen Farben kommunistischer Propaganda-Schriften und in lauten US-Wahlkämpfen. In der Struktur seiner Minimal Music orientierte sich Adams an Satyagraha von Philip Glass. Ohne in Formalismus zu verfallen, nimmt er auch Anleihen an der europäischen Operntradition. Die beiden Richards (Strauss und Wagner) schimmern deutlich im Revolutionsballett.
Warum aber bringt man dieses Stück heute auf die Bühne? Julia Lwowski vom Regiekollektiv HAUEN UND STECHEN:
"Es geht um das Kräftemessen zweier Giganten. Obwohl der neoliberale Imperialismus Amerikas und der ausbeuterische Kommunismus Chinas konträre politische Ideologien sind, ähneln sie sich doch in ihrer Brutalität. Beide Systeme haben viele Menschenleben gefordert. Zudem ist Nixon in China ein zutiefst amerikanisches Stück – von der Musik, die broadwayhafte Züge trägt, über die englische Sprache bis hin zur Zeichnung der Figuren. Auch wenn sich Libretto und Musik dabei immer wieder über die USA lustig machen, sind die Amerikaner*innen die Sympathieträger*innen. Die Schattenseiten der Protagonisten rücken dabei in den Hintergrund. Im Grunde geht es also um viel mehr als nur einen Besuch: Es geht um Lügen, Propaganda und das Hinterfragen von scheinbaren Wahrheiten."
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Der Abend beginnt überraschend: Von wilden Anhängern bedrängt, flieht der taiwanesische Tenor Ya-Chung Huang alias Mao Tse-tung verzweifelt aus dem Opernfoyer in Richtung Bühne; von Kameras übertragen können wir das per Liveübertragung im Saal verfolgen. Dann schweben Richard Nixon und seine Entourage mit einem weißen Fallschirm vom Bühnenhimmel. Zwei Welten prallen aufeinander: Die Amerikaner gruseln und amüsieren sich beim Kriegsballett der Roten Garden, bei der Besichtigung einer Schweinefarm und in einer kommunistischen Klinik. Die Chinesen wedeln mit Mao-Bibeln, dem Kapital von Karl Marx und versuchen ihre Gäste mit greller Folklore von der Brutalität ihres Regimes abzulenken. Videoaufnahmen und Liveübertragungen werden kreativ und meist äußerst witzig eigensetzt. Das Regieteam spielt mit Klischees, ohne ins Klischeehafte zu verfallen. Wie ein Rausch ziehen die ersten beiden Akte vorbei. Dann Schluss mit lustig: Videos von Atomexplosionen, erdrückend und laut, werden auf dem Vorhang projiziert. Das Ende der Geschichte eine Weltzeituhr beginnt zu rasen und bleibt bei 351.062.494 nach Christus stehen. Tolle Momente, eine spannende Katharsis, hier könnte das Stück auch schone enden. Doch im dritten Akt beginnen die Hauptfiguren über ihre Lebensläufe zu sinnieren, begreifen sie am Ende, was sie anrichten? Das Stück lässt es offen und schafft den Link zum Heute. Putin in Pjöngjang und in Hanoi, Trump macht aus dem Gerichtssaal Wahlkampf.
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Nixon in China an der Deutschen Oper Berlin | Foto (C) Thomas Aurin
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Thomas Lehmann als Nixon: herrlich glaubwürdig und fahrig zugleich.
Auch die anderen Partien überzeugtn: Seth Carico als Kissinger, Ya-Chung Huang als Mao und Hye-young Mon als dessen Frau. Heidi Stober als Pat Nixon gab eine bizarre in die Weltgeschichte katapultierte amerikanische Hausfrau. Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin (Dirigent: Daniel Carter) hüllten das Publikum in ein klangliches Räderwerk, in einen Fluss, der die dreieinhalb Stunden faszinierend vorbeiziehen ließt.
Viel Applaus schon nach einzelnen Bildern, und am Ende jubelt das außer Rand und Band geratenen Publikum. Zeitgemäßes Musiktheater, abstrakt und emotional zugleich, jeder kommt auf seine Kosten!
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Steffen Kühn - 24. Juni 2024 ID 14815
NIXON IN CHINA (Deutsche Oper Berlin, 22.06.2024)
Musikalische Leitung: Daniel Carter
Künstlerische Leitung: Hauen und Stechen
Regie: Franziska Kronfoth und Julia Lwowski
Bühne: Yassu Yabara
Kostüme: Christina Schmitt
Video und Live-Kamera: Martin Mallon
Licht: Henning Streck
Dramaturgie: Carolin Müller-Dohle
Chor: Jeremy Bines
Besetzung:
Chou En-lai ... Kyle Miller
Richard Nixon ... Thomas Lehman
Henry Kissinger ... Seth Carico
Nancy T’ang, erste Sekretärin Maos ... Elissa Pfaender
Zweite Sekretärin Maos ... Deborah Saffery
Dritte Sekretärin Maos ... Davia Bouley
Mao Tse-tung ... Ya-Chung Huang
Pat Nixon ... Heidi Stober
Chiang Ch’ing, Maos Frau ... Hye-Young Moon
Ching Hua (Schauspielerin 1) ... Gina-Lisa Maiwald
Ching Hua (Schauspielerin 2) ... Angela Braun
Ching Hua / Hung (Schauspieler) ... Thorbjörn Björnsson
Tänzer / Performer ... Jean Chaize
Tänzerin / Performerin ... Brigitte Cuvelier
Chor der Deutschen Oper Berlin
Orchester der Deutschen Oper Berlin
Premiere war am 22. Juni 2024.
Weitere Termine: 28.06., 04., 10., 12.07.2024
Weitere Infos siehe auch: https://www.deutscheoperberlin.de
Post an Steffen Kühn
http://www.hofklang.de
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