Alles auf Anfang
OVERTURE mit dem Staatsballett Berlin
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Overture von Marcos Morau - mit dem Staatsballett Berlin | Foto (C) Serghei Gherciu
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Bewertung:
Vorab schon mal:
Punkt 1, Mahler & Tanz geht immer. Die allererste Assoziation, was das betrifft, wäre John Neumeiers abendfüllende Dritte Sinfonie von Gustav Mahler mit dem Hamburger Ballett, vor 50 Jahren wurde das Werk (die New York Times nannte es "eine der größten klassischen Choreografien unseres Jahrhunderts") an der Alster uraufgeführt und steht noch immer dort im Repertoire. Das wäre also dann die absolute Messlatte.
Punkt 2, Mahler im Opernhaus. Aktuell und live erlebbar im Orchestergraben der Staatsoper Unter den Linden, wo eines der weltbesten Orchester, nämlich die "hauseigene" Staatskapelle Berlin (Dirigent: Marius Stravinsky) drei Sätze aus der 5. Sinfonie (I, IV und V) spielt. Das klingt gewohnt-gekonnt und hat eine warm-voluminöse Sattheit, die man eigentlich aus dem Orchestergraben dieses Hauses so nicht für möglich gehalten hätte.
Ja und mit dieser klanglichen Exklusivität "im Hintergrund" agierten nunmehr die Tänzerinnen und Tänzer vom STAATSBALLETT BERLIN, die entsprechend der jetzt uraufgeführten Choreografie und Inszenierung des Spaniers Marcos Morau jene drei Mahler-Sinfoniesätze lang auf der Bühne zugegen waren und uns Zuschauer mit der so bezeichneten Overture beschenkten, betörten und beglückten.
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"Die Tatsache, dass ich kein ausgebildeter Tänzer bin, erlaubt mir eine andere Perspektive auf das Bühnengeschehen. Mein Hintergrund in Fotografie, Dramaturgie und Theaterwissenschaft prägt meinen Blick auf diese Kunstform über die bloße Bewegung hinaus. Während der Tanz zentral ist, sind die Konstruktion des Bildes, die Verwendung von Texten, Situationen und Räumen grundlegende Elemente meiner Gesamtkonzeption."
So ähnlich nüchtern-theoretisch [s.o.] lesen sich dann auch die weiteren Erklärungsversuche des hochsympathischen Spaniers - ab dieser Spielzeit ist Morau übrigens "Artist in Residence" am Staatsballett Berlin - , welche er dem Programmheft-Interviewer anvertraute. Ja und allenfalls das Großgedruckte einzwei Seiten vorher ließ und lässt erahnen, was der Choreograf mit seiner Overture so beabsichtigte, nämlich eine "Allegorie über Aufbau und Zerstörung":
"Bauen und Zerstören definieren uns als Menschen, Anfang und Ende; wir lassen Dinge halb fertig zurück, aber öffnen immer wieder Türen und Anfänge, weil wir müde werden von dem, was zuvor kam, weil wir es zerstört haben, weil wir es vergessen haben..."
Aber genug der grauen Theorie, jetzt also Butter bei die Fische und kurzum: Was gab's konkret zu sehen?
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Overture von Marcos Morau - mit dem Staatsballett Berlin | Foto (C) Serghei Gherciu
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Die mehr oder weniger als Gruppen-Choreografie wahrnehmbaren Körperinstallationen vollzogen sich auf und an die Bühne von Max Glaenzel teils und gänzlich (in der Mitte jedenfalls, also bei Mahlers Adagietto) einnehmenden antiken Säulen; beim schon besagten Adagietto waren es über ein Dutzend, die mit einem Mal vom Schnürboden herabschwebten und eine Art von dunklen Wald (Licht: Marc Salicrú) vorstellen ließen. Anfangs (beim gewaltigen Trauermarsch aus Mahlers fünfter Sinfonie) schien das zunächst nicht eindeutig erkennbar; und ich selbst vermutete zuerst - beim Anblick der sich nach und nach "verselbständigenden" und quer liegenden Säule - entweder ein riesiges Kanonen- oder ausgedientes Heizungsrohr von Gazprom; würde/ hätte auch durchaus zum obigen Konzept Moraus gepasst haben, doch das nur nebenbei bemerkt.
Am grandiosesten und auch völlig unerwartbarsten ging es dann tatsächlich in dem Mittelbild der dreiteiligen Choreografie zu: Eine der Tänzerinnen (jetzt in einer folkloristischen Tracht; Kostüme: Silvia Delagneau) rief mehrmals irgendeinen Namen irgendeines Menschen, den sie vermutlich vermisste oder suchte, und sie kriegte natürlich keinerlei Resonanz hierauf - stattdessen gab es immer mehr und immer weitere Tänzerinnen und Tänzer (ebenfalls und in den gleichen folkloristischen Trachten wie ihre Vorruferin) zu sehen, die sich voreinander hinter den Säulen immer wieder versteckten, um gleichsam immer wieder an anderer Stelle plötzlich aufzutauchen; eine Art "Spuk im Zauberwald" oder so... Mehr noch wechselten die Gruppen von den folklorischen Trachten in Alltagsklamotten, und das auch irgendwie einheitlich... Und so kam es zu diesen teils deut- und teils undeutbaren Zusammenkünften zweierlei Kulturen oder Zeitebenen; jedenfalls: Das alles sah schon ziemlich toll aus!!!
Beim sinfonischen Mahler-Finale blieb dann wieder nur die eine Säule übrig, die sich prompt auch wieder in die Quere neigte, und das installative Gruppenbild vom Anfang (beim Trauermarsch) wurde de facto wiederholt...
Sehr suggestiv das alles und vor allem: sehr, sehr schön.
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Nicht minder schön das zweite Stück an diesem mysteriösen Abend, es heißt Angels' Atlas, stammt von der Kanadierin Crystal Pite und wurde bereits vor vier Jahren in Toronto mit dem National Ballet of Canada uraufgeführt; ein fürs Staatsballett Berlin zurechtmodifizierter Nachklapp also.
Die mit Chormusik von Tschaikowsky (aus dessen Liturgie) und vorgemixten Klanginstallationen von Owen Belton sowie Morten Lauridson - nichts live darboten, sondern alles per Tonkonserven über Lautsprecherboxen - angereicherte Performance trieft geradezu vor lauter Schönheit und purem Ästhetizismus; man wird eigentümlich süchtig nach dem allen. Nacherzählen lässt sich allerdings dann nichts.
Erstaunlich auch die auf einer Großleinwand im Hintergrund (Bühne: Jay Gower Taylor; Licht: Tom Visser) sich verselbständigende wie aus sich 'raus leuchtende Algenwelt.
Danielle Muir & Jan Casier, Meiri Maeda & Loick Pireaux, Emma Antrobus & Achille De Groeve, Leroy Mokgatle sowie Matthew Knight & Gustavo Chalub waren als Solistinnen und Solisten resp. Paarkonstellationen im Programmheft ausgewiesen. Da sie sich partout, anfangs fast unbemerkt, aus der Gruppe der Übrigen herausschälten, um dort gleichsam wieder in ihr aufzugehen, fiel es schwer, die eine und den andern "wiederzuerkennen".
Merkwürdigerweise erhielt dann dieser zweite Programmteil den ungleich stärkeren Beifall des ohnehin regelrecht aus dem Häuschen geratenen Premierenpublikums.
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Angels´ Atlas von Crystal Pite - mit dem Staatsballett Berlin | Foto (C) Serghei Gherciu
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Das STAATABELLETT BERLIN ist wieder da!
Und Christian Spuck - das will ich heute schon behaupten - wird eine sehr gute, um nicht gar zu sagen sehr, sehr gute erste Spielzeit hinter sich gebracht haben.
Ich freue mich auf seine kommende Saison.
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Andre Sokolowski - 30. April 2024 ID 14723
OVERTURE (Staatsoper Unter den Linden, 28.04.2024)
Overture
Choreographie und Inszenierung: Marcos Morau
Musik: Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 5 (I., IV., V, Satz)
Kostüme: Silvia Delagneau
Bühne: Max Glaenzel
Licht: Marc Salicrú
Dramaturgie: Israel Solà
Choreographische Assistenz: Shay Partush und Valentin Goniot
Mit: Shaked Heller, Achille De Groeve, Leroy Mokgatle, Fions McGee, Jan Casier, Jessica Beardsell, Lewis Turner und weiteren Tänzerinnen und Tänzern des Staatsballetts Berlin
Staatskapelle Berlin
Dirigent: Marius Stravinsky
UA mit dem Staatsballett Berlin: 28. April 2024
Angels´ Atlas
Choreographie: Crystal Pite
Musik: Owen Belton
Zusätzliche Musik: Peter Tschaikowsky (aus Liturgie op. 41) und Morten Lauridsen, O Magnum Mysterium
Reflective Light Backdrop Concept und Design: Jay Gower Taylor und Tom Visser
Bühne: Jay Gower Taylor
Licht: Tom Visser
Kostüme: Nancy Bryant
Choreographische Assistenz und Einstudierung: Spencer Dickhaus
Mit: Danielle Muir & Jan Casier, Meiri Maeda & Loick Pireaux, Emma Antrobus & Achille De Groeve, Leroy Mokgatle, Matthew Knight & Gustavo Chalub sowie weiteren Tänzerinnen und Tänzern des Staatsballetts Berlin
UA in Toronto mit The National Ballet of Canada: 29. Februar 2020
Premiere beim Staatsballett Berlin war am 28. April 2024.
Weitere Termine: 30.04./ 03., 05., 18., 24., 25.05./ 01., 05.06.2024
Weitere Infos siehe auch: https://www.staatsballett-berlin.de
https://www.andre-sokolowski.de
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