BREGENZER FESTSPIELE 2022
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Im Schatten
Dostojewskis
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(C) Bregenzer Festspiele / moodley
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Bewertung:
Am Abend nach der Großproduktion auf dem See hat bei den BREGENZER FESTSPIELEN traditionell eine zweite Oper im Festspielhaus Premiere. Unter David Pountney wurde dieser Termin für mehr oder weniger zeitgenössische Werke genützt. Elisabeth Sobotka reserviert ihn, nach einem Anfang mit Hofmanns Erzählungen, für die Wiederentdeckung vergessener älterer Opern und Komponisten. Diesmal ist es, als Koproduktion mit dem Theater Bonn, Sibirien von Umberto Giordano (1867-1948) aus dem Jahr 1903.
Das Libretto schrieb Luigi Illica, von dem nicht nur das Libretto zu Madama Butterfly, sondern auch zu Tosca und La Bohème stammt. Ein Spezialist fürs Melodramatische also. Was aber treibt ihn nach Russland? Dass seine Kenntnisse beschränkt waren, zeigt sich schon daran, dass er eine Hauptfigur Gléby nennt. Es gibt im Russischen zwar den Vornamen Gleb, Gléby aber gibt es nicht, und der Akzent wie die Endung wirken befremdlich. Allerdings begegnen wir zahlreichen vertrauten Motiven aus der russischen Literatur. Stephana, die Vassili in die Verbannung folgt, erinnert an Sonja aus Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne), aber auch an Nastassja Filippowna aus Der Idiot, die, von Männern ausgehalten, deren Opfer wird. Aus der Opernwelt teilt Sibirien das Motiv des Arbeitslagers mit den deutlich späteren Werken Aus einem Totenhaus von Leoš Janáček und Lady Macbeth von Mzensk von Dmitri Schostakowitsch.
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Der Regisseur Vasily Barkhatov (die Schreibweise russischer Namen purzelt im Programmheft wieder einmal munter durcheinander) hat nicht nur eine Figur hinzuerfunden, die über die Bühne und durch Filmintermezzi schleicht, in aller Welt und in einem vom Bühnenbildner Christian Schmidt imposant entworfenen Archiv recherchiert. Er verlegt die 1903 (!) erdachte Handlung vorübergehend auch in die Sowjetzeit. Und das, obwohl die Zarenhymne ebenso anklingt wie das alte Lied der Wolgaschlepper. Visuell und in der Personenführung besticht die Inszenierung durch Einfälle und einen der Musik entsprechenden Rhythmus. Besonders gut gelingen Barkhatov die Gruppenarrangements, die er diskret auch in Bewegung hält, wenn sie nicht gerade am Gesang beteiligt sind.
Umberto Giordano wird dem Verismus zugerechnet. Seine bekannteste Oper ist Andrea Chénier, die 2011/12 auch am Bodensee gezeigt wurde. Ihren Erfolg konnte der Komponist allerdings nicht wiederholen. Die Musik von Sibirien fließt zwar gefällig dahin, vollführt auch ihre interessanten Eskapaden, aber es fehlt ihr an einem Ohrwurm, der es mit Puccini und mit Madame Butterflys Arie "Un bel dì, vedremo" aufnehmen könnte.
Die Bregenzer Aufführung beweist jedoch, dass diese Oper durchaus auch ein Jahrhundert nach ihrer Erschaffung sehens- und hörenswert ist. Mit der Kanadierin Ambur Braid stand eine kraftvolle, stimmlich unbeirrbare Stephana zur Verfügung, mit Alexander Mikhailov ein russischer Vassili, der die italienische Herkunft der Musik nicht zu verschleiern versuchte, und mit dem Texaner Scott Hendricks ein würdiger Bösewicht als Gegenspieler. Am Dirigentenpult der Wiener Symphoniker stand ebenfalls ein Russe, Valentin Uryupin, als handle es sich wirklich um eine russische Erfindung. Aber wenn Böhmen am Meer liegen kann – warum nicht Sibirien in Foggia oder auch am Bodensee? Selbst wenn die Temperaturen bei der Premiere alles andere als sibirisch waren.
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Sibirien von Umberto Giordano bei den BREGENZER FESTSPIELEN 2022 © Bregenzer Festspiele/Karl Forster
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Thomas Rothschild - 22. Juli 2022 ID 13722
SIBIRIEN (Festspielhaus, 20.07.2022)
Musikalische Leitung: Valentin Uryupin
Inszenierung: Vasily Barkhatov
Bühne: Christian Schmidt
Kostüme: Nicole von Graevenit
Licht: Alexander Sivaev
Chorleitung: Lukáš Vasilek
Besetzung:
Stephana ... Ambur Braid
Nikona ... Fredrika Brillembourg
La fanciulla | Die alte Frau ... Clarry Bartha
Vassili ... Alexander Mikhailov
Gleby ... Scott Hendricks
Fürst Alexis ... Omer Kobiljak
Ivan | Der Kosak ... Manuel Günther
Bankier Miskinsky | Der Invalide ... Michael Mrosek
Walinoff | Der Gouverneur ... Unnsteinn Árnason
Der Hauptmann | Der Aufseher ... Stanislav Vorobyov
Prager Philharmonischer Chor
Wiener Symphoniker
Premiere bei den Bregenzer Festspielen war am 21. Juli 2022.
Weitere Termine: 24.07. / 01.08.2022
Weitere Infos siehe auch: https://bregenzerfestspiele.com/
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