Filme, Kino & TV
Kunst, Fotografie & Neue Medien
Literatur
Musik
Theater
 
Redaktion, Impressum, Kontakt
Spenden, Spendenaufruf
Mediadaten, Werbung
 
Kulturtermine
 

Bitte spenden Sie!

Unsere Anthologie:
nachDRUCK # 5

KULTURA-EXTRA durchsuchen...

Repertoire

Untergang im

Dreivierteltakt



Krieg und Frieden von Prokofjew - an der Ungarischen Staatsoper in Budapest | Foto (C) Berecz Valter; Bildquelle: opera.hu

Bewertung:    



Der Vorhang hebt sich. Stimmen aus dem Off verwirren, sind nicht wirklich nachzuverfolgen. Der Raum ist eine Nachbildung des Boudoirs der langjährigen Zarin Maria Alexandrowna im 19. Jahrhundert in der Sankt Petersburger Hermitage. Das elegante, rot-goldene Rokoko-Ambiente wird aber sofort zerstört...

Prokofjews Krieg und Frieden an der UNGARISCHEN STAATSOPER in Budapest:

Calixto Bieito macht es den Sängern nicht leicht. Bevor sie singen können, müssen sie sich erst aus einer dichten, widerspenstigen Plastikfolie schälen. Das ist harte Arbeit und verlangt mehrere Versuche. Kaum in der Freiheit angekommen, wird ihnen bewusst, dass sie das kleine, individuelle Gefängnis gegen ein größeres, kollektives eingetauscht haben. Niemand wird in den nächsten zwei Stunden diesen Raum verlassen können. Sie rennen sich an den Wänden die Köpfe ein oder versuchen an ihnen hochzuklettern.

Die Beklemmung schwappt auf uns über. Wir warten auf den Walzer, der diese klaustrophobische Stimmung unterbrechen soll. Bieito gönnt uns diese Erholung allerdings nicht und schickt die Protagonisten auf Stühle und Plüschsofas, wo sie stehend marionettenhafte, spastisch-kantige Bewegungen machen. Wir wollen wegsehen, denn schön sieht das nicht aus, aber es geht nicht. Der Abstieg hat begonnen.

Prokofjew kannte Tolstois Romanvorlage gut. Die Idee zur Oper kam 1940 von Mira Mendelson, seiner zweiten Frau. Elf Jahre hatte er sich mit dem Stoff befasst. Er zog Parallelen von Napoleons Russland-Feldzug und Hitlers Überfall und schrieb die Begleitmusik zu den aktuellen Ereignissen in seinem Land.

Von Tolstois 550 Figuren konzentrierte sich Prokofjew auf 72:

Es geht einmal um die Liebe des lebensüberdrüssigen Andrej Bolkonski (Csaba Szegedi) zu Natascha Rostowa (Andrea Brassoi-Jörös) und zum anderen um den Kampf der Russen gegen Napoleons Invasion. Für Tolstois geschichtliche und militärische Erklärungen im Roman ist in der Prokofjew-Oper kein Platz.

Da Andrejs Vater gegen die Verbindung von Natascha zu seinem Sohn ist, schickt er diesen kurzerhand ins Ausland. Im Hause von Pierre Besuchow (Szabolcs Brickner) verkuppelt Helena, Pierres intrigante Frau (Erika Gál), Natascha mit ihrem Bruder Anatol (Zoltán Nyári). Dieser verspricht der Unerfahrenen all das, wovor sie immer träumte. Als Natascha erfährt, dass Anatol schon verheiratet ist, bricht sie zusammen. Die dekadente Oberflächlichkeit der Sankt Petersburger feinen Gesellschaft wird immer wieder getrübt von der Angst vor dem Korsen, aber dann geht man gleich wieder zum üblichen Tratsch über.

Auch im zweiten Akt wird Prokofjews Walzer nie getanzt. Er wird Begleitmusik beim Abstieg in Dantes Höllenschlund. Die heftigen Abwehr-Bewegungen aller Beteiligten können diese Talfahrt nur verlangsamen, verhindern nicht.

Der die Kriegsschrecken ankündigende Epigraph kommt bei Bieito am Anfang des zweiten Aktes. Der Chor schmettert und vibriert vor Patriotismus.

Napoleon (Zsolt Haja) steht schon 20 Minuten vor seinem Auftritt im roten Krönungsumhang auf der Bühne. Das kitschige Boudoir in der Hermitage verwandelt sich, ohne dass man sich dessen anfangs bewusst wird, mehr und mehr in ein verwüstetes Schlachtfeld, die Wände stürzen ein, der Kronleuchter fällt herunter, und die roten Plüschmöbel stehen auf dem Kopf, der Boden ist übersät von Briefschnitzeln. Die gesellschaftliche Verrohung nimmt ihren Verlauf. Da hilft es auch nichts mehr, dass ein Bediensteter einen Hummer auf einem Tablett um die umgestürzten Möbel trägt. Er will die Hungernden nähren. Das ist Hohn.

Die vielen Parallelhandlungen auf der Bühne rauschen an uns vorbei, während im Hintergrund Filmsequenzen mit Fratzen und beunruhigenden Bildern vorbeiziehen, die man am liebsten ignorieren möchte. Nicht einmal der milde Gutmensch Pierre Besuchow darf anständig bleiben. Sein Freund Platon (Péter Balczó) irrt wie ein Jünger Gottes in Unterhose umher. Die Schwester von Andrej packt sich in ein von ihr selbst gebasteltes Kleid aus den gebrauchten Plastikfolien. Andrejs Todesszene passiert auch nicht in den Armen von Natascha. Er liegt blutüberströmt auf den Überresten des in Miniatur aufgebauten und gleich wieder zerstören Bolschoi-Theaters und haucht mit eckigen Handbewegungen aus.

Am Ende des zweiten Aktes bleibt nur noch General Kutusow (Péter Fried). Er konnte seine weiße Uniform vor der Beschmutzung retten, sitzt gütig am Bühnenrand und streicht einem kleinen, neben ihm knienden, Mädchen über die Haare. Ein Vergleich mit Stalin bleibt hier nicht aus.

Der Dirigent Alan Buribayev lässt das Orchester der Ungarischen Staatsoper in satter, herber und nuancenreicher Farbenpracht daherkommen. Er bekommt sehr viel Applaus.

Brassoi-Jörös singt und spielt die junge, unbedarft-tänzelnde, naiv-glühende Natascha und ihr Erwachsenwerden mit großer Hingabe. Bieito macht sie zum Hauptopfer. Der stattliche Csaba Szegedi hat den Andrej mit großer Sensibilität und Wärme gesungen und gespielt. Mühelos lassen sie sich auf die poetisch-surrealistische Stimmung dieser Inszenierung ein. Die Sängerinnen und Sänger in der Budapester Oper waren durch die Bank gut und ihren Rollen perfekt gewachsen, auch die kleineren Rollen waren gut besetzt.

* *

Ausgebucht war der Abend nicht, vielmehr verließen im Verlauf der vierstündigen Aufführung so einige den Saal. Das hatte sicher nicht an den unbequemen Sitzen in dem wunderbaren Opernhaus gelegen.

Bieito hatte Prokofjews grandiose und wuchtige Krieg und Frieden-Oper neu zu erfinden und zu interpretieren versucht. Seine Arbeit entstand 2021 als erste Eigenproduktion der Genfer Oper und wurde dort seinerzeit von Alejo Perez dirigiert. Bieito wählte als Grundlage für seine Regie Prokofjews umgearbeitete Fassung von 1958, deren Erstaufführung der Komponist jedoch nicht mehr erlebte.



Krieg und Frieden von Prokofjew - an der Ungarischen Staatsoper in Budapest | Foto (C) Berecz Valter; Bildquelle: opera.hu

Christa Blenk - 30. Mai 2024
ID 14776
KRIEG UND FRIEDEN (Ungarische Staatsoper Budapest, 25.05.2024)
Musikalische Leitung: Alan Buribayev
Inszenierung: Calixto Bieito
Bühne: Rebecca Ringst
Kostüme: Ingo Krügler
Licht: Michael Bauer
Video: Sarah Derendinger
Dramaturgie: Beate Breidenbach
Besetzung:
Andrei Bolkonsky ... Csaba Szegedi
Natasha Rostova ... Andrea Brassói-Jőrös
Pierre Bezukhov ... Szabolcs Brickner
General Kutuzov ... Péter Fried
Napoleon ... Zsolt Haja
Count Ilya Rostov ... István Kovács
Hélène Bezukhova ... Erika Gál
Sonya Rostova ... Melinda Heiter
Marya Dmitriyevna Akhrosimova ... Andrea Szántó
Lieutenant Dolokhov ... Géza Gábor
Lieutenant Colonel Denisov ... András Kiss
Platon Karataev ... Péter Balczó
Nikolai Bolkonsky ... Antal Cseh
Anatole Kuragin ... Zoltán Nyári
u.v.a.
Chor und Orchester der Ungarischen Staatsoper
Premiere am Grand Théâtre de Genève: 13. September 2021
Budapester Premiere war am 9. Mai 2024.
Weitere Budapester Termine: 25., 28.05.2024
Eine Koproduktion mit dem Grand Théâtre de Genève


Weitere Infos siehe auch: https://www.opera.hu


Post an Christa Blenk

eborja.unblog.fr

Konzerte

Musiktheater

Neue Musik

Werkbetrachtungen



Hat Ihnen der Beitrag gefallen?

Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!



Vielen Dank.



  Anzeigen:





MUSIK Inhalt:

Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN

Rothschilds Kolumnen

BALLETT |
PERFORMANCE |
TANZTHEATER

CASTORFOPERN

CD / DVD

INTERVIEWS

KONZERTKRITIKEN

LEUTE

NEUE MUSIK

PREMIERENKRITIKEN

ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski



Bewertungsmaßstäbe:


= nicht zu toppen


= schon gut


= geht so


= na ja


= katastrophal




Home     Datenschutz     Impressum     FILM     KUNST     LITERATUR     MUSIK     THEATER     Archiv     Termine

Rechtshinweis
Für alle von dieser Homepage auf andere Internetseiten gesetzten Links gilt, dass wir keinerlei Einfluss auf deren Gestaltung und Inhalte haben!!

© 1999-2024 KULTURA-EXTRA (Alle Beiträge unterliegen dem Copyright der jeweiligen Autoren, Künstler und Institutionen. Widerrechtliche Weiterverbreitung ist strafbar!)