Heilige zum
Anfassen
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Amelia Scicolone (als Angelo) in Händels La Resurrezione - am Nationaltheater Mannheim | Foto (C) Christian Kleiner
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Bewertung:
Der katholische Stuttgarter Stadtdekan Christian Hermes, ein kluger, artikulierter und in mancherlei Hinsicht sozial denkender Mann, der sich, was leider nicht selbstverständlich ist, gegen rechtsradikale Tendenzen positioniert hat, der Habermas zitiert und hoffentlich nicht nur zum "tiefgläubigen Katholiken" Messiaen, sondern auch zu Paul Dessau und Kurt Weill in die Oper geht, wenn's aber drauf ankommt, ein Funktionär seiner Kirche, beklagte sich jüngst in der Stuttgarter Zeitung über einen Mangel an Transzendenz in der Inszenierung der Oper Saint François d’Assise. Was würde er erst zu der jüngsten, thematisch verwandten Premiere des Nationaltheaters Mannheim sagen? Der Verweis auf den Himmel findet immer noch eine geneigtere Presse als der Aufruf zur Beseitigung des irdischen Elends. Die Wahrheit über die Klimakatastrophe ist nicht so willkommen wie der Glaube an die Himmelfahrt. Wer sich für jene auf die Straße klebt, wird kriminalisiert. Wer diesen perpetuiert, erfreut sich einer Mitgliedschaft im Rotary Club und im Päpstlichen Ritterorden vom Heiligen Grab zu Jerusalem. Die Aufklärung hat im 21. Jahrhundert endgültig kapituliert. Daran ändert auch die Replik des Stuttgarter Operndirektors Viktor Schoner auf Hermes’ Intervention nichts: "Im Theater spielen wir Theater. Für das Göttliche sind andere zuständig." Das sollte sich in einem laizistischen Staat eigentlich von selbst verstehen. Wo, als Alternative zum Göttlichen, wäre noch Platz für Brechts Verständnis von Theater als "Instrument der Aufklärung im Sinne einer revolutionären gesellschaftlichen Praxis"? Klingt altertümlich? Altertümlicher, als die Forderung von Transzendenz und einer inszenatorischen Fokussierung auf "die Überwältigung durch die Herrlichkeit Gottes"?
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Zu den Ausweichspielstätten des wegen Sanierung langfristig unbenutzbaren NATIONALTHEATERS MANNHEIM zählt auch das Schlosstheater in Schwetzingen, wo, Veronika, der Spargel wächst. Ein schöneres und passenderes Ambiente für ein Oratorium von Georg Friedrich Händel lässt sich kaum denken. Freilich hat sich eine bemerkenswerte Umkehrung vollzogen. Früher spielte man Opern historisch kostümiert in Häusern des 19. und 20. Jahrhunderts. Heute stehen auf der barocken Bühne Figuren unserer Gegenwart. Der Aristokratismus ist in der Gosse gelandet (und dagegen ist nichts einzuwenden). Calixto Bieito hat La Resurrezione szenisch umgesetzt – ein Verfahren, das nicht mehr überrascht. Die Adaption sakraler Werke an die Erfordernisse der Bühne hat mittlerweile eine ganze Riege namhafter Regisseure herausgefordert. Wo die Katholiken der Kirche in Scharen davonlaufen, muss ihnen der weltliche Theaterbetrieb Asyl gewähren. Wenn der Prophet nicht zum Berg Kirchenmusik kommt, muss der Berg Kirchenmusik zum Propheten kommen. Die Agnostiker und Befürworter eines Theaters, das über die Rituale des Gottesdiensts hinaus geht, freut’s.
Das Oratorium – vollständiger Titel: Oratorio per la Resurrettione di Nostro Signor Giesù Cristo (deutsch: Oratorium über die Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus) – handelt, wie der Titel sagt, von der Auferstehung. Die Story ist bekannt. Calixto Bieito macht daraus allerbestes Musiktheater, und zwar nicht auf Kosten der Musik. Interessanterweise fand bereits die Uraufführung im Jahr 1708 im weltlichen Rahmen und szenisch statt. Kirchenmusik im engen Verständnis war das Oratorium nie. Die Uraufführung erregte das Missfallen des Papstes, weil an ihr statt eines Kastraten eine Frau beteiligt war. Die katholische Kirche als Vorreiterin der Frauenverachtung: hier hat sie ihre Spuren hinterlassen. Bedenkt man diese Tatsache, ist eine katholische Feministin ein Widerspruch in sich wie ein vegetarischer Kannibale. Für die Schwetzinger Aufführung musste sich niemand kastrieren lassen. Sage da einer, dass es keinen Fortschritt gebe.
Das Volk, so dürfen wir vermuten, liegt am Boden (mangels eines Chors sind es Statisten), als sich aus dem Schnürboden, in zur Auferstehung entgegengesetzter Richtung, ein blutbefleckter Zinksarg herabsenkt. Von hinten betritt der Engel den Zuschauerraum und begibt sich nach vorne an die Rampe, singend, Kaugummi kauend, in weißen Hot Pants und Sneakers, um Luzifer im schwarzen Tank Top und mit Baseballschläger zu veräppeln.
Danach wird ein raumfüllender Wohncontainer auf die Vorderbühne geschoben. Ihm entsteigt in Unterwäsche Maria Magdalena. Ihr zur Seite steht die Maria des Kleophas. In den Überlieferungen wird sie meist nur am Rande und mit unterschiedlicher Charakterisierung erwähnt. Im Johannesevangelium heißt es: "Bei dem Kreuz Jesu standen seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Klopas, und Maria von Magdala." Maria, die Frau des Klopas: das ist Händels Maria Kleophas. Jesu Mutter kommt bei ihm nicht vor. Die verbliebenen zwei Frauen vom Kreuz gehen, in Übereinstimmung mit vielen Bibelinterpreten, offenkundig dem ältesten Gewerbe nach. Später duscht der Engel die Maria des Kleophas im Badeanzug vom Dach des Containers aus mit zwei leuchtenden Wasserpistolen. So zugleich trauernd und turbulent waren Jesu Hinterbliebene selten.
Der Engel verwandelt sich in Arlecchino ("Im Theater spielen wir Theater"), unter ihm flimmern Filmschnipsel von Georges Méliès. Nach der Pause wird ein Zitat aus der Schlachthausdokumentation Le sang des bêtes von Georges Franju projiziert, die immer dann eingespielt wird, wenn es recht grauslich werden soll – gesteigert noch im Zeitalter der Veganer. Maria Magdalena steht im Hochzeitskleid und mit Dornenkrone am Grab Jesu. Dann setzt sich Luzifer die Dornenkrone auf und – blasphemische Klimax – spuckt ins Grab.
Zum abschließenden Fugato verteilt der Engel Partyhütchen, die Wände des Containers schließen sich, ein Film fügt eine Prozession hinzu, und der Zinksarg entschwindet nach oben.
Sängerisch ist die Aufführung eine ungetrübte Freude. Die drei Frauen – Amelia Scicolone als Engel, Seunghee Kho als Maria Magdalena und Maria Polańska als Maria des Kleophas – singen mit einer ergreifenden, stilbewussten Inbrunst, Patrick Kabongo als Johannes ergänzt sie mit seinem wohlklingenden kräftigen Tenor, und Patrick Zielke als Luzifer demonstriert mit körperlicher und stimmlicher Fülle, wo der tiefe Bass hingehört: in die Hölle. Wolfgang Katschner am Pult des klein besetzten Orchesters des Nationaltheaters Mannheim überließ den Sänger*innen auf der Bühne und zeitweise hautnah am Publikum dankenswerterweise die buchstäbliche Führungsstimme.
In die Rezeption von Theater mischt sich stets die Erinnerung an in der Vergangenheit Gesehenes. Stofflich führte mich die Aufführung in Schwetzingen sechs Jahrzehnte zurück nach Warschau, zu einem meiner aufregendsten Theatererlebnisse: Kazimierz Dejmeks Geschichte von der löblichen Auferstehung des Herrn. Was aber bei Dejmek auf der Grundlage eines "Mysteriums" von Mikołaj z Wilkowiecka aus dem 16. Jahrhundert scheinnaiv daher kam, ist bei Bieito und seinem Dramaturgen Xavier Zuber hochintellektuell, voll mit Bildungszitaten. "Für das Göttliche sind andere zuständig."
Zum Trost: was wäre für uns, metaphorisch, göttlich, wenn nicht die Musik von Händel?
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Christian Kleiner (als Luzifer) in Händels La Resurrezione - am Nationaltheater Mannheim | Foto (C) Christian Kleiner
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Thomas Rothschild - 12. Juli 2023 ID 14287
LA RESURREZIONE (Schlosstheater Schwetzingen, 11.07.2023)
Oratorium von Georg Friedrich Händel
Musikalische Leitung: Wolfgang Katschner
Regie: Calixto Bieito
Bühnenbild: Anna-Sofia Kirsch
Kostüme: Paula Klein
Licht: Nicole Berry
Dramaturgie: Xavier Zuber
Besetzung:
Angelo ... Amelia Scicolone
Luzifer ... Patrick Zielke
Maria Magdalena ... Seunghee Kho
Maria des Kleophas ... Maria Polańska
Jünger Johannes ... Raphael Wittmer und Patrick Kabongo
Nationaltheater-Orchester
Premiere war am 9. Juli 2023
Weitere Termine: 13., 15., 18., 21., 23.07.2023
Eine Produktion des Nationaltheaters Mannheim
Weitere Infos siehe auch: https://www.nationaltheater-mannheim.de
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