Unbekannte
Ukraine
|
|
Bewertung:
Mal ehrlich: Wie viele ukrainische Komponisten, Maler, Filmemacher, Schriftsteller haben Sie bis vor einem Jahr gekannt? Haben Sie je etwas von dem ukrainischen Nationaldichter Taras Schewtschenko gelesen? Bedurfte es wirklich eines Krieges und der Flucht von mehr als acht Millionen Menschen, einem Fünftel der Bevölkerung, ins Ausland, damit der Westen die Kultur eines ganzen Volkes zur Kenntnis nimmt? Um sich die Dimensionen klarzumachen: Das ist, als ob die gesamte Bevölkerung von Nordrhein-Westfalen Deutschland verließe. Die deutschsprachigen jüdischen Künstler aus Galizien, dem ehemals polnischen und ukrainischen Gebiet, das damals Teil der Habsburgermonarchie war, wurden, befördert durch eine Bringschuld nach dem Holocaust, wiederentdeckt, publiziert, in Feuilletons und Biographien propagiert. Aber die ukrainisch sprechenden Künstler blieben ein Weißer Fleck auf der Landkarte der Weltkultur. Das Beispiel verstärkt den Verdacht, dass die Rezeption der Künste, nicht nur im aktuellen Fall, anderen als ästhetischen Kriterien folgt. Müssen die Russen nach Polen einmarschieren, damit sich die deutschen Theater an Witkacy, Różewicz oder Mrożek erinnern?
*
Jetzt ermöglicht die ukrainische Pianistin Violina Petrychenko die Bekanntschaft mit Mykola Lysenko, Alois Jedlichka, Yakiv Stepovyi, Levko Revutskyi. Alle Genannten wurden noch im 19. Jahrhundert geboren und sind der Tonalität verpflichtet. Jedlichka war Tscheche, der über Russland nach Poltawa in der Ukraine übersiedelt ist. Eigentlich schreibt er sich Jedlička. Auch Revutskyi muss sich die englische Transkription gefallen lassen. In der deutschen Version des Textes im Beiheft heißt er Rewuzkyj. Beklagenswert, wessen Name in der Geburtsurkunde kyrillisch geschrieben wurde. Violina Petrychenko liefert ausführliche Informationen zu den Komponisten. Dass sie etwas zu euphorisch ausfallen – wer möchte ihr das angesichts der gegenwärtigen Situation verübeln. Chopin oder Rachmaninoff/ Rachmaninow/ Rachmaninov hätten solch eine Apologie nicht nötig.
Die CD trägt den hybriden ukrainisch-englischen Titel Mrii – Ukrainian Hope, wobei „Mrii“ „Träume“ bedeutet. Die Kompositionen sind von den stilistischen Strömungen geprägt, die auch die gleichzeitig entstandene Musik in anderen Ländern bestimmt haben. Hinzu kommen Einflüsse oder direkte Zitate der ukrainischen Folklore, was wiederum mit nationalistischen und autonomistischen Tendenzen des 19. Jahrhunderts in vielen Teilen Europas zu tun hat. So verweist der Titel Dumka-Schumka auf eine traditionelle slawische Gattung der Volksmusik, auf die sich die ebenfalls traditionelle „Schumka“, wörtlich „Lärm“, reimt. Einzelne von den kurzen Stücken darf man dem nicht scharf umrissenen Genre der Salonmusik zurechnen. Beachtung haben sie allenfalls verdient.
Thomas Rothschild – 3. März 2023 ID 14079
https://violina-petrychenko.de/de/discs
Post an Dr. Thomas Rothschild
CD
ROTHSCHILDS KOLUMNEN
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeigen:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
BALLETT | PERFORMANCE | TANZTHEATER
CASTORFOPERN
CD / DVD
INTERVIEWS
KONZERTKRITIKEN
LEUTE
NEUE MUSIK
PREMIERENKRITIKEN
ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski
RUHRTRIENNALE
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|