Zwischen „Fick dich“,
„Willst’n Börger“
und Facebook
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Bewertung:
Inszeniert Simon Stone landauf landab, weil ihn die Kritiker, landauf landab, in den Himmel loben, als sei ihnen der Messias des Theaters erschienen, oder loben die Kritiker Stone, in Ermangelung eigener Urteilskraft, weil er landauf landab inszeniert? Selten wurde um einen Regisseur ein solcher Hype gemacht, ohne dass andere Vorzüge genannt würden als allenfalls seine angebliche Fähigkeit, Dramen der Vergangenheit in die Gegenwart zu verfrachten. Ob ihm das tatsächlich gelingt, kann man bei auch nur oberflächlicher Betrachtung bezweifeln, und ob das überhaupt wünschenswert sei und wenn ja, warum, wird nicht begründet. Es wird vorausgesetzt wie die Annahme, dass der Umgang mit Computern für die Schule wichtiger sei als Geschichtsunterricht oder dass ein Arzt lieber die neuesten Apparate anschaffen als Masern von Scharlach unterscheiden können soll. Dass Simon Stone der überschätzteste Regisseur unserer Tage ist, ist ihm freilich ebenso wenig vorzuwerfen wie einem Heiratsschwindler die Tatsache, dass einfältige Frauen auf ihn hereinfallen. Hochstapler sind stets nicht bloß Profiteure, sondern
Produkte ihrer Klientel.
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Das Stück, mit dem Simon Stone zum Shooting Star des deutschsprachigen Theaters wurde, Tschechows Drei Schwestern, ist jetzt auf DVD erschienen. Gelegenheit also, die Berechtigung der allgemeinen Verzückung zu überprüfen. Wie stimmig, wie intelligent, wie künstlerisch produktiv ist diese Inszenierung? Und eignet sie sich als Modell für alle jene Regisseur*innen, die Stones Verfahren der „Überschreibung“ gefolgt sind wie Erleuchtete einer Heilsbotschaft oder wie Schafe dem Leithammel. Wobei es einige von ihnen geschafft haben, Stone an Pseudooriginalität und Empfänglichkeit für Oberflächenreize noch zu übertreffen. Wie sagte doch Ödön von Horváth? „Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit.“
Die Frage, die sich eine Theaterkritik stellen muss, wenn sie mehr sein will als ein PR-Erfüllungsgehilfe für die Veranstalter, lautet: Welche Eigenschaften sind es, die ein 1901 uraufgeführtes Stück ohne Simon Stones Kosmetik wie wenig andere auf den internationalen Bühnen überleben und also offenbar als relevant erscheinen ließen? Und was hat Stones Operation geleistet, was das Original nicht nur bis zur Unkenntlichkeit verändert, sondern verbessert? Wenn sich das nicht präzise benennen lässt, war die Mühe nicht nur vergebens, sondern Tschechow gegenüber eine Vergewaltigung. Sie sollte nicht weniger beanstandet werden als ein sexueller Übergriff. Kein lebender Dramatiker ließe solche selbstherrliche Willkür zu. Wer schützt die Toten? Dies ist kein Plädoyer für Texttreue. Aber für eine Regel, dass nur die oder der in ein Kunstwerk eingreifen darf, die oder der mit Verstand und Kunstfertigkeit des Autors, der Autorin Schritt halten kann oder diese überbietet. Wer dahinter zurück bleibt und sich über fremde Texte hermacht wie ein Geier über ein Aas (und das ist schlimmer als ein Plagiat), weil er zu talentlos ist, um ein eigenes Stück zu schreiben, sollte in die Schranken verwiesen werden. Es gibt kein Menschenrecht auf Regie.
Gleich in den ersten fünf Minuten verdichtet Stone Partikel des Modevokabulars und des Modejargons, soweit man sie aus der Übertragung ins Deutsche erschließen kann, zu einem pausenlosen Kollektivgequassel, das so viel mit der Realität zu tun hat wie ein Presslufthammer mit einer Mozart-Symphonie. Gemessen an dieser Anbiederung an das Fernsehen sind Tschechows Originaldialoge noch in der schlechtesten Übersetzung bis heute Höhepunkte der Sensibilität und der Poesie.
Bei Tschechow gibt es eine Stelle, in der die soziale Aufsteigerin Natascha die alte Kinderfrau der drei Schwestern anbrüllt, weil sie in ihrer Anwesenheit sitzen bleibt. Olga, die älteste Schwester, sagt ihr, dass sie das nicht ertragen könne. „Jede Gefühllosigkeit, mag sie noch so geringfügig sein, jedes unzarte Wort regt mich auf.“ Die Kinderfrau muss bei Simon Stone verschwinden. Sie passt nicht in seine Welt, in der man sich zwischen Apple und Android entscheiden muss. Aber mit ihr verschwinden auch die Spuren von Menschlichkeit. Von Tschechows eigentlichem Thema, dem begründeten, aber dennoch tragischen Niedergang einer überholten Klasse durch die historischen Umstände, bleibt bei Stone nichts übrig. Seine „Überschreibung“ holt Tschechows Drama nicht in die Gegenwart, sondern vernichtet es. Der australo-schweizerische Moderegisseur teilt mit anderen Dramatikern und mit Kritikern unserer Tage den völligen Mangel an Geschichtsbewusstsein, sowohl gegenüber der Situation, die den Hintergrund für die Drei Schwestern bereitstellt, wie gegenüber den Veränderungen, die in den mehr als hundert Jahren, die seit deren Uraufführung vergangen sind, stattgefunden haben. Gegen diese intellektuelle Dürftigkeit – anders kann man es nicht nennen – kommt auch das hervorragende Ensemble nicht an. (Hervorragend, vorausgesetzt man erträgt die Stimme von Cathrin Störmers Natascha. Mit deren Frequenz markiert man die Dummerchen in Broadway-Musicals.) Die Schauspieler*innen haben sich dem Diktat der Regie offenbar willenlos unterworfen. Kein Wunder, wenn die Kritik das Ergebnis bei Stone-Elaboraten euphorisch hochjubelt wie nur noch bei Susanne Kennedy, die ihre Lebensaufgabe darin zu sehen scheint, Schauspieler durch Avatare zu ersetzen. Man muss ja, wenn sie einem nicht behagt, nicht unbedingt die Inszenierung von Peter Stein zum Vergleich heranziehen. Tamás Ascher oder Eimuntas Nekrosius könnten auch als Beleg dafür dienen, was für ein Gemetzel hier angerichtet wurde.
Den Rest machen die Auswüchse der Mikroports an den Backen und deren mit Klebeband befestigte Kabel auf den nackten Rücken beim Ficken. In Nahaufnahme. Dank DVD. Echt.
Thomas Rothschild - 7. April 2022 ID 13565
https://www.naxos.de/neuheiten/4260415080561/
Post an Dr. Thomas Rothschild
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