Religiöser Wahn
und sexuelles
Begehren
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Bewertung:
Eigentlich ist der Stoff von Valerij Brjusows Roman Der feurige Engel, der auch der gleichnamigen Oper von Sergej Prokofjew zugrunde liegt, nicht gerade, was man mit der großen Regisseurin Andrea Breth assoziieren möchte. Sie hat sich eher mit einem psychologischen Realismus einen Namen gemacht, von dem Brjusow weit entfernt ist. Allenfalls Breths Vorliebe für die russische Literatur stellt einen Zusammenhang her mit anderen Projekten der vergangenen Jahre, zumal aus dem Bereich der Oper. Die wegen Corona lange verzögerte Inszenierung von Prokofjews Werk aus dem Jahr 1928 am Theater an der Wien liegt nun, erstaunlich schnell nach der Aufführung, als DVD und Blu-ray vor.
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Andrea Breth deutet die Story nicht mystisch und symbolistisch, sondern eigenwillig, aber stimmig als Pandämonium einer Geisteskrankheit. Realität und Vision lassen sich nicht unterscheiden, und eine Unterscheidung ist auch gar nicht erforderlich. Jedenfalls nicht, wenn man sich Renatas Subjektivität zueigen macht. Unheimlich wird sie erst durch die Außensicht, die Allgemeingültigkeit für sich beansprucht. Andrea Breth verrät ihre eigene Position nicht. Allenfalls die Art und Weise, in der sie die zu einer Krankenschwester umgewandelte Herbergswirtin karikiert, verrät, dass sie nicht deren Rolle spielen möchte.
In dem kuriosen, hochmodernen Einschub, in dem Faust und Mephisto auftreten und der zugleich an die Schenkenszene aus Boris Godunow erinnert, überrascht Andrea Breth als virtuose Künstlerin des Surrealismus bis hin zu einem Zitat aus Luis Buñuel.
Die Bühne von Martin Zehetgruber, dem Libretto nach zu Beginn eine Herberge in Deutschland an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, präsentiert sich als mehrdeutige Mischung aus psychiatrischer Klinik, Leichenschauhaus, Lagerhalle, die zusammen mit den schäbigen Kostümen in Schattierungen von Grau getaucht ist. Es könnte auch das Straflager aus Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk oder aus Janáčeks Aus einem Totenhaus sein.
Mit Aušrinė Stundytė als Renata und Bo Skovhus als Ruprecht stehen Andrea Breth zwei Protagonisten zur Verfügung, die kaum zu übertreffen sind, und zwar sowohl sängerisch wie schauspielerisch. Mit ihnen kehrt Breth trotz mancherlei Stilisierung und Choreographie doch wieder zu ihrer psychologischen Figurenzeichnung zurück, wobei sie den sexuellen Subtext des Librettos hervorhebt. Die Handlung, die für ein rationales Denken eine Herausforderung bedeutet, gewinnt dadurch an Spannung. Und wer nun meint, Breths Auffassung stelle sich quer zur durchkomponierten Musik, irrt. Deren Strukturen und Details werden, im Gegenteil, durch das Bühnengeschehen verdeutlicht.
Ein Ensemble ist, wenn zwei Solisten längere Passagen singen, stumm und unbewegt, zu grotesken Arrangements gruppiert. Oper und Inszenierung enden in einem furiosen Exorzismus, der einen Bogen schlägt zu Pendereckis Teufel von Loudon. Massenhysterie, die zum Tode führt: sage einer, das sei nicht aktuell.
Thomas Rothschild – 12. April 2022 ID 13572
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