Der definitive
Monteverdi
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2017, zum 450. Geburtstag von Claudio Monteverdi, reiste der, wie alle bedeutenden britischen Dirigenten geadelte, John Eliot Gardiner, einer der Pioniere der historischen Aufführungspraxis, mit einer szenischen Aufführung der drei erhaltenen von wahrscheinlich zwanzig Opern des erst sehr spät wiederentdeckten Komponisten, L’Orfeo, Il ritorno d’Ulisse in patria und L’incoronazione di Poppea, mit seinen English Baroque Soloists, dem Monteverdi Choir und einem exquisiten Solisten-Ensemble, das den Chor zwischendurch verstärkt, um die halbe Welt.
Man vermisst nichts beim Verzicht auf ein Bühnenbild und bei der Beschränkung auf nur angedeutete szenische Aktionen. Ein Mantel reicht, um den heimgekehrten Odysseus in einen greisen Bettler zu verwandeln. Innerhalb dieses Rahmens gibt es wirkungsvolle Kleinigkeiten, etwa wenn Eurydikes Gefährtin, begleitet im doppelten Wortsinn von einem Lautenisten, als Übermittlerin der Todesbotschaft den Zuschauerraum von hinten durchschreitet. Das Visuelle ist auch nicht ohne Witz, etwa wenn Poseidon im blauen Frack auftritt, Juno ihrem Mann Jupiter einflüstert, was er zu sagen hat, oder in dem zu einer aus der Commedia dell’arte entlehnten Arlecchino-Figur transformierten verfressenen Bettler und Parasiten Iro (bei Homer: Iros). Und es mag überraschen, wie ein katholischer Priester nicht nur die sehnsuchtsvolle Liebe, sondern auch das sexuelle Begehren komponiert hat, ehe es von der christlichen und der feministischen Prüderie verteufelt wurde. In Penelopes Dienerin Melanto erkennt man eine frühe Vorläuferin von Despina aus Così fan tutte, wenn diese ihre Gebieterin davon abbringen will, ihre Liebe an einen vermeintlich Toten zu verschwenden. Die aber ist, neben Solvejg in Ibsens Peer Gynt, der Inbegriff der unanfechtbaren Treue in der Weltliteratur.
Ein schöner Einfall: Penelopes hochgestreckter rechter Arm ist der Bogen, der dem Wettstreit um ihre Gunst dienen soll. Wie die Freier ihn nicht verbiegen können, so können sie die standhafte Frau des Odysseus nicht verbiegen, wofür Minerva (bei Homer: Athene) im Hintergrund sorgt. Rechts, bei den Blockflöten hinter der Harfe, sitzt eine Frau – als Moira? –, die den Lebensfaden mehr zu häkeln als zu spinnen scheint.
Die Götter stehen bei Monteverdi auf einer Ebene mit den Menschen, mit denen sie ihr Spiel treiben oder die sie, wie Minerva, protegieren. Bei Nestroy oder Jacques Offenbach taugen sie nur noch als Komödienfiguren. Wie erfreulich, dass es zu Monteverdis Zeiten keine Zensor*innen gab, denen es gelungen wäre, unzeitgemäße und somit frevelhafte Gottheiten wie Virtus, Fortuna oder Amor aus dem Werk des gläubigen Katholiken zu canceln.
Das Porträt eines Autokraten im antiken Gewand und der Spott über Seneca in L’incoronazione di Poppea lassen den Wunsch aufkommen nach einem heutigen Komponisten, der eine Oper schreibt über Trump und Sloterdijk. Es könnten auch Orbán oder Putin herhalten und Precht oder Safranski (mit denen Seneca allerdings Unrecht geschähe). Jedenfalls ist das Libretto von Giovanni Francesco Busenello, das, anders als die Orpheus- und die Odysseus-Oper, nicht auf mythologischen Stoffen, sondern auf historischen Quellen – konkret: auf den Annalen des Tacitus – basiert, spannender und aktueller als die Libretti der meisten Händel-Opern. Am Ende kriegt der Tyrann, gesungen von einem Countertenor, die begehrte Poppea, aber die Musik lässt Zweifel, ob das ein glückliches Ende ist. Zuvor wird der zum Mord angestiftete Ottone, begleitet von der ihn liebenden Drusilla, nach Sibirien – pardon, aus Rom in die Verbannung geschickt, ebenso wie die betrogene Gattin des Kaisers, die das Attentat in Auftrag gegeben hat, und Poppeas Amme besingt feixend ihren gesellschaftlichen Aufstieg. Da scheint schon eine Portion Zynismus drin zu stecken. Aber wer weiß, wie das die Zeitgenossen Monteverdis wahrgenommen haben.
Das Orchester und der Dirigent, teils stehend, teils sitzend, aber stets ohne Show, bleiben im Blick und intensivieren die Konzentration auf die Musik. Die Handlung, zumindest des Orpheus-Mythos und der Odyssee, dürfte ja den meisten Zuschauern bekannt sein. Aufmerksamkeit allerdings verdient die bildreiche frühbarocke Sprache des Librettisten von L’Orfeo Alessandro Striggio des Jüngeren, die auch in der (deutschen) Übersetzung der Untertitel erhalten bleibt. Eine Klage wie die folgende mag uns Heutigen fremdartig klingen, aber wer dafür ein Ohr hat, wird ihre Schönheit zu schätzen wissen: „Ja, wer vermag unsere Augen in eine unerschöpfliche Quelle zu verwandeln, damit wir an diesem trauervollen Tag genügend weinen können, einem Tag, der so fröhlich begann und jetzt unendlich traurig geworden ist?“ („O pur, chi ne concede/ Negl'occhi un vivo fonte/ Da poter lagrimar come conviensi/ Io questo mesto giorno,/ Quanto più lieto già tant'or più mesto?“)
Im Übrigen erinnert die Trilogie daran, dass die durchkomponierte Oper, im Gegensatz zur Nummernoper, nicht, wie vielfach kolportiert, von Richard Wagner stammt, sondern am Anfang der Operngeschichte stand.
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Selten sind die 5 Ks so verdient wie bei diesem Monteverdi-Zyklus, der nun in einer Box als DVD und Blu-ray [The Monteverdi Trilogy], aufgenommen in einem der schönsten und traditionsreichsten Opernhäuser der Welt, im venezianischen Teatro La Fenice, vorliegt. Man mag sich unter Spezialisten streiten über manche Entscheidung bei der Instrumentierung, wo kein Original überliefert ist. Aber wie auch immer: dieser Parforceritt ist wirklich nicht zu toppen. Diese Musik ist so zum Heulen betörend und kein bisschen „veraltet“, dass man auch nach achteinhalb Stunden nicht genug davon bekommt. Monteverdis charakteristischer Quartvorhalt kann süchtig machen, und er klingt noch in einem nach, wenn man abends einschläft.
P.S.: Am 24. März hatte Die Krönung der Poppea in der Regie von Evgeny Titov an der Opéra National du Rhin Premiere. Wir wollten davon berichten. Ob sie ein großer Wurf geworden ist oder ein Flop, ob das Ensemble Pygmalion unter der Leitung von Raphaël Pichon gar die Interpretation durch John Eliot Gardiner übertroffen hat, wissen wir nicht. Die Pressereferentin der Oper erwies sich als so unkooperativ, dass wir auf eine Reise nach Straßburg verzichtet haben. Sie folgt einem Trend, die Ermöglichung von Kritik als Gnadenerweis zu betrachten. Die Pressefreiheit ist durch solches Verhalten weitaus mehr gefährdet als durch den Einzelfall eines mit Hundekot bewaffneten Choreographen.
Thomas Rothschild – 28. März 2023 ID 14122
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The Monteverdi Triloby
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