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Konzertkritik

musikfest berlin 2011 - Chöre von Lotti und Tallis / Mahlers SINFONIE DER TAUSEND







Kurt Sanderling starb gestern im Alter von 99 Jahren in Berlin. Er war der langjährige Chefdirigent vom BSO (heute: Konzerthausorchester), und er kannte Schostakowitsch noch persönlich; sowieso galt er als einer der weltbesten Schostakowitsch-Interpreten. Wie auch Mahler, unter anderem, eine Domäne von ihm war... - Sir Simon Rattle würdigte den Toten zu Beginn des langen Abends, der sogleich mit zwei sehr, sehr, sehr alten Chören einen hochgrandiosen Anfang nahm:

Der Duke of Norfolk - wie zu lesen ist - hätte um 1567 rum, als eine 40stimmige Motette Alessandro Striggio's in London hörbar wurde, an das Ehrgewissen seiner Landeskinder appelliert, ob sie (also falls sie was von Musik verstünden) denn nicht auch so etwas Gutes (also wie vom Striggio) komponieren könnten; und der Herrscher muss dann also wahrlich höchstgerührt von dem Bewussten, was auch ihm zu Ohren kam, gewesen sein o. s. ä. Thomas Tallis (1505-1585) fühlte sich scheinbar persönlich angesprochen, und er lieferte dem Duke sein Spem in alium nunquam habui - eine Motette für acht fünfstimmige Chöre a capella. / Diese und noch eine weitere Motette, nämlich Crucifixus c-Moll für achtstimmigen Chor a capella von Antonio Lotti (1666-1740), intonierte nun der exzellent singende Rundfunkchor Berlin; und wir sind wieder einmal ganz und gar ergriffen, um nicht gar zu sagen sprachlos über diesen menschenstimmenwundersamen Apparat! Nur Gänsehaut... mehr sag' ich nicht.

Mit diesem purchorigen Einstieg wollte Simon Rattle aufs Polychorale - durch die beiden Beispiele aus Renaissance sowie Barock - verwiesen haben, was für ihn quasi als Vorbote zu Mahlers Achter Sinfonie ("tönendes Universum") steht. Dass dieses Monstrum (und der Volksmund resp. die Vermarkter [damals schon] nennen das Ding die "Symphonie der Tausend") letzten Endes wohl der nichtssagenste und auch lächerlichste Kraftakt in dem zehnteiligen Sinfonie-Oevre des Meisters war und ist, belegt nicht nur das abqualifizierende Zitat Adornos von der "symbolischen Riesenschwarte". Dabei insistiert der Philosoph vielmehr auf die vermahlerte Schlussszene aus dem Goethe-Faust - viel weniger auf den vulgär gestanzten Ersten Teil der Sinfonie. // Und Rattle - was total verwundert; haben wir ihn doch mit seiner epochal zu nennenden und Beispiel setzenden Vorzeige-Interpretation von Mahlers Siebter von vor ein paar Wochen noch in magischer Erinnerung - vermag in keiner Weise, diesem (insbesonderen!) Gewaltausbruch des sog. Pfingsthymnus diminuierend zu begegnen. Ähnlich ausufernd , und vollkommen ins Hohle zielend, das als Jubel- oder Schreichor hingeknallte allerletzte Verspaar aus Faust II; allein Anna Prohaska, die das so vermeintlich Sphärische mit ihrer engelgleichen Stimme (und tatsächlich aus der allerhöchsten Höhe) in das Tal des Donnerns vorbereitend sandte, stand als personifizierter Lichtblick ganz-ganz oben auf der Galerie. /// Für die Berliner Philharmoniker war es seit einem Dutzend Jahren wieder Zeit, dass sie die Achte Mahlers jetzt und hier erstaunlichst musizierten.

Beifallsstürme.



Andre Sokolowski - 19. September 2011
ID 5387
BERLINER PHILHARMONIKER (Philharmonie, 18.09.2011)
Antonio Lotti: Crucifixus c-Moll für achtstimmigen Chor a cappella
Thomas Tallis: Spem in alium für acht fünfstimmige Chöre a cappella
Gustav Mahler: Symphonie Nr. 8 "Symphonie der Tausend"
Erika Sunnegårdh, Sopran
Susan Bullock, Sopran
Anna Prohaska Sopran
Lilli Paasikivi, Mezzosopran
Nathalie Stutzmann, Alt
Johan Botha, Tenor
David Wilson-Johnson, Bariton
John Relyea, Bass
Rundfunkchor Berlin
(Choreinstudierung: Simon Halsey)
MDR Rundfunkchor Leipzig
(Choreinstudierung: Howard Arman)
Knaben des Staats- und Domchors Berlin
(Choreinstudierung: Kai-Uwe Jirka)
Berliner Philharmoniker
Dirigent: Sir Simon Rattle
Eine Veranstaltung der Stiftung Berliner Philharmoniker in Kooperation mit dem musikfest berlin/Berliner Festspiele



Siehe auch:
http://www.berliner-philharmoniker.de


http://www.andre-sokolowski.de



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