"Der Teufel tanzt
es mit mir!"
Simon Rattle dirigiert Mahlers letzte drei Sinfonien
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Mahlers Totenmaske Bildquelle: Wikipedia
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Visconti variierte seiner Zeit den Tod in Venedig. Hierin versuchte er, die Lücke zwischen Mahlers 9. und (unvollendeter) 10. Sinfonie zu schließen. Es entstand eine polaroidne Künstlerbiografie - im Unterschied zu Thomas Mann, bei dem Gustav von Aschenbach ein Dichter ist, verwandelte Visconti ihn in einen Komponisten mit der unverwechselbaren Mahlermaske - , die sich in dem fleischlichen Verirrungswünschen (Tadzio!) und des hieraus aberstürzenden Verändernwollens, eines letztlich unerfüllten Endstadiums mit Folge Herztod filmerisch gefiel. Und bis zur Penetranz wird so das Adagietto aus der 5. Sinfonie bemüht; es klingt schon in der Ferne, wenn bei Filmbeginn der Dampfer, aus dem Nebel hornend, Richtung Lido zielt. Wir wissen, spätestens seit dieser Ankunftsfahrt, dass irgendetwas mit Venedig dieses Mal nicht stimmen mag; so eine Art von ansteckender Seuche liegt weit vor Beginn der eigentlichen Film-Handlung in aller Luft...
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Simon Rattle feiert dieses Jahr mit den Berliner Philharmonikern deren 125jähriges Bestehen - Bildquelle: berliner-philharmoniker.de
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Wie wären jene handschriftlichen Fetzen an Zitaten, die man in den nachgelassnen Skizzen seiner 10. Sinfonie entdeckte, anderweitig aufzudeuten wenn nicht in dem einhelligen Willen eines unerhörlichen "Geständnisses" des Komponisten, dessen wahre Absicht (seiner 10. Sinfonie) niemals bekannt wurde und nie bekannt sein wird. "Erbarmen!" heißt es da: "O Gott, warum hast du mich verlassen? Der Teufel tanzt es mit mir! Wahnsinn faßt mich an, Verfluchten! Vernichte mich, daß ich vergesse, daß ich bin!" - Doch Mahler war nicht wahnsinnig geworden, nichts dergleichen ist bekannt. Er hatte einen Herzfehler und starb vielleicht an Überarbeitung, vielleicht am nie geheilten großen Kummer um das tote Töchterlein, vielleicht an der ihn völlig aus der Bahn geworfen habenden Spontanerkenntnis, dass die unstillbare Gattin seit Geraumem eine Parallelbeziehung zu dem jungen Architekten Walter Gropius pflegte - - und wer weiß wie einem selber einst der Tod, vor allem auch warum, begegnen wird; es bleibt das innigste Geheimnis eines jeden: Gott sei Dank, dass es so ist.
Luchino also, der die subjektivste aller Sichten auf den Komponisten Gustav Mahler (1860-1911) in umstrittenste Erwägung zog - nicht unumstrittener als Deryck Cooke's Versuch, dem Torso dieser mysteriösen zehnten Mahler-Sinfonie endgültige Gestalt zu geben; und sein Rekonstrukt gefällt der Gustav-Mahler-Forschung nach wie vor nicht.
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Ja, es musste etwas zu bedeuten haben, dass dann Simon Rattle ausgerechnet um die Zeit des Jubiläums (125 Jahre) Mahlers letzte Sinfonien - jeweils dann gekoppelt mit 'nem neuen Stück - durch die Berliner Philharmoniker jetzt nacheinander aufgeführt zu haben angetreten war: Den zwielichtigsten Eindruck hatte wohl das Freiverkaufs-Konzert erzeugt; und Rattle trifft da nullste Schuld - was kann er auch dafür, wenn mitten rein (Lied von der Erde) Handys klingeln oder sinnlos und an völlig falscher Stelle applaudiert wird; Rattle war gezwungen, einen der sechs Sätze zweimal zu beginnen, und man spürte es: Die insgesamte Stimmung dieses Abends war nicht gut, sie musste einfach dann durch diese dreisten Publikumsattacken einer Art von Ohnmacht "höherer Gewalten" vor der unsensibel-ungebildet durch den schönsten Saal der Welt gewütet habenden Vereinfachung in menschlicher Gestalt aufs Eklatanteste gelitten haben. Dass die Ausstrahlung (und Textverständlichkeit) von Thomas Quasthoff, welcher an der Seite von Ben Heppner sang, geradezu titanisch nennbar ist, kann dennoch diese Trübung letzten Endes nicht mehr ungescheh'n sein lassen.
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Caspar David Friedrich, Mönch am Meer | Bildquelle: Wikipedia
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Zentren / Zielpunkte - in allen Mahlersinfonien - sind die irrlichternen Langsamsätze. In der Neunten ist es End- und in der Zehnten Ausgangsstadium alles Anderen. Es war'n dann auch die beiden Abende (9. und 10. Sinfonie), die eine Unvergesslichkeit als Brand- um nicht zu sagen Wundmal hinterlassen haben werden, dass es mir, nach Jahren und Jahrzehnten sicherlich, die Tränen in die Augen treiben wird, wenn ich an sie zurückzudenken mich erweichen sollte. Es ist unbeschreiblich!! Zweifach war man Zeuge einer Totenfeier, die es so "im wahren Leben" freilich niemals gibt; vielleicht kann man das Alles mt dem Mönch am Meer von Caspar David Friedrich bildlich greifen, anders nicht.
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Nach beiden Aufführungen - nach der 9. mehr noch als nach Schluss der 10. - anhaltende, atemlose Stille. Die Erschütterungen traten faktisch ohne jeden Willen eines andern ein; sie war'n so ungewollt wie man nur denken konnte.
Simon Rattle ist mit den Berliner Philharmonikern auf unschattigste Augenhöhe angelangt.
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Andre Sokolowski - 9. November 2007 ID 3519
http://www.andre-sokolowski.de
BERLINER PHILHARMONIKER (Philharmonie)
27. Oktober 2007
Magnus Lindberg (geb. 1958): "Seht die Sonne"
Solo-Violoncello: Ludwig Quandt
Gustav Mahler: Symphonie Nr. 9 D-Dur
3. November 2007
Thomas Adès (geb. 1971): Tevót für großes Orchester in einem Satz
Mahler: Das Lied von der Erde
Ben Heppner, Tenor
Thomas Quasthoff, Bariton
8. November 2007
Christian Jost (geb. 1963): Heart of Darkness - Odyssee für Klariette in B und Orchester
Karl-Heinz Steffens, Klarinette
Mahler: Symphonie Nr. 10 Fis-Dur (Aufführungsversion von Deryck Cooke)
Berliner Philharmoniker
Dirigent: Simon Rattle
Weitere Infos siehe auch: http://www.berliner-philharmoniker.de
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