Kunstlieder
aus England
|
|
Bewertung:
Kunstlieder zählen zum Speziellsten, was die menschliche Stimme bereit und fähig ist in Töne zu verwirklichen, sie sind das, was man in der Dichtkunst "Lyrik" nennen würde. Wer sie singt, wird - was das Glaubwürdige seines/ ihres "Kunstgesangs" betrifft - eindeutig identifizierbar. Keine Chance für Vertuschung. Keine Gnade für den Sänger und/ oder die Sängerin. Man kriegt als Hörer alle Stärken (und auch alle Schwächen) menschlichen Gesangs unmissverständlich mit, man liebt (und leidet) das Gehörte, und egal wie es sich jedes Mal dann anhörte: Bewundernswert sind Kunstlieder und diejenigen, die sie singen, allemal.
Einer der größten Liedsänger der jüngeren Vergangenheit war Peter Schreier (1935-2019). Von ihm ist bekannt, dass er sich mit der Winterreise bis zum letzten Drittel seiner sängerischen Laufbahn Zeit gelassen hatte. Als die Semperoper 1985 wieder öffnete, sang er sie erstmals überhaupt. Zu dieser Zeit war Schreier bereits neunundvierzig. - - Nein, so lange wollte der im englischen Salisbury geborene und mittlerweile schon seit sieben Jahren in Deutschland lebende Bariton Benjamin Hewat-Craw nicht warten, und so tat er Schuberts Opus magnum exklusiv für sich (und seinen in Köln geborenen Klavierpartner Yuhao Guo) als Debüt-Album bestimmen; 2020 war es fertig eingespielt und landete umgehend auf den Phonomarkt. Der Interpretationsansatz der beiden Künstler distanziert sich überraschend vom dem diesem Werk so innewohnenden und piesackenden Suizidgedanken der die Winterreise Wilhelm Müllers absingenden und durchleidenden (lyrischen) Hauptgestalt. Mehr auf die lebensnahen und lebendigen als auf die lebensüberdrüssigen und lebensmüden Abschnitte des 24-teiligen Stationen-Monodramas legen Hewat-Craw & Guo Wert. Das, was am Schluss des Zyklus unerklärlich "tragisch" mit dem Wanderer passiert, scheint nicht das generelle Ziel der beiden jungen Interpreten gewesen zu sein, mit andern Worten ausgedrückt: Dass es am Schluss dann halt mit ihm so kam, tja, vorher leben müsste-muss man... C'est la vie.
*
Jetzt wechselten die Zwei vom deutschen in das englische Lied-Repertoire, und ihre neueste CD haben sie folglich auch mit ENGLISH SONG betitelt. Dem wird, als programmatischer Aufhänger und Leitmotiv, ein Gedicht von Philip Larkin (1922-1985) vorangestellt, in dem es heißt:
"Niemals solche Unschuld,
Nie zuvor oder seitdem,
Verloren in der Vergangenheit
Ohne ein Wort - Die Männer
Ließen die Gärten gut bestellt,
Tausende von Ehen,
Währten eine kleine Weile länger:
Nie wieder solche Unschuld."
Siebzehn Lieder erklingen - je sechs von Ralph Vaughan Williams (1872-1958) und George Butterworth (1885-1916), fünf von Ivor Bertie Gourney (1890-1937) komponiert. Der erstgenannte der drei Komponisten ist der wohl bekannteste, die beiden anderen de facto "unbekannt"; ja und genau DIE Auswahl dürfte für den Sänger Hewat-Craw, der dann auch das von ihm vorzüglich recherchierte und superb verfasste Booklet beisteuerte, von extravagantem Reiz gewesen sein. Zusammenfassend lässt sich also (auch gestützt durch die vertiefender Lektüre des besagten Booklets) konstatieren, dass das Über-Thema des Gesungenen jenes kurzlebige Davor eines im Ersten Weltkrieg als Kanonenfutter an die Front gejagten und missbrauchten anonymen jungen Mannes - und besonders jetzt und aktuell wird uns als hilf- und hoffnungslosen Zaungästen inmitten von Europa voll bewusst, wie sich Geschichte schamlos wiederholt, wie abermals an diese oder jene Front gejagte und missbrauchte anonyme junge Männer als Kanonenfutter ihrer jeweiligen Mächte dienen - war und ist!
Das von Vaughan Williams in Noten gesetzte House of Life versammelt ein halbes Dutzend Liebesgedichte aus der Feder des britischen Dichters und Malers Dante Gabriel Rossetti (1828-1882) - eines schöner und liebreizender als das andere; "DIe Sicht der Liebe", "Mittagsschweigen", "Barden der Liebe", "Zuflucht des Herzens", "Tod in der Liebe", "Das letzte Geschenk der Liebe" heißen sie auf deutsch.
Butterworth, der 1916 in der Schlacht an der Somme mit nicht mal 31 Jahren fiel, hatte mit seinen Six Songs of A Shropshire Lad sechs Kostproben der gleichnamigen 63-teiligen Gedichtesammlung von Alfred Edward Housman (1859-1936) vertont; in ihnen geht es beispielsweise um den "Lieblichsten der Bäume" (Nr. 1) oder "Hunderte Burschen" (Nr. 5), und es werden solche Überschriften wie "Als ich einundzwanzig war" (Nr. 2), "Schau nicht in meine Augen" (Nr. 3), "Denk nicht mehr, Bursche" (Nr. 4) oder "Pflügen meine Pferde noch" (Nr. 6) hör- und lesbar.
Über Gurney ist bekannt, dass er nach seinem Militärdienst unter Kriegsneurosen litt und die fünfzehn letzten Jahre seines Lebens in einer Irrenanstalt verbrachte; zudem ist überliefert, dass er sich in seinen Wahnvorstellungen höchstselbst für Shakespeare gehalten haben soll - das muss dann allerdings weit nach der Zeit gewesen sein, als er außer den zwei Shakespear-Sonette, "Orpheus" (Nr. I) und "Under the greenwood" (Nr. III), auch noch drei andere mittelalterliche (elizabethanische) Gedichte, "Sleep" von John Fletcher (Nr. IV), "Spring" von Thomas Nash (Nr. V) und "Tears" von einem anonymen Dichter (Nr. II) zu seinen Five Elizabethan Songs zusammenfügte.
* *
Was ich auf dieser CD hörte (und im Booklet las!), war alles neu für mich!!
Die Lieder klingen oftmals "schwer", die sie umspielende Atmosphäre zeugt von melancholischer Insichgekehrtheit, stellenweise nimmt sie aufgeregte, um nicht gar zu sagen aufgekratze Züge an und will mit dieser Art von Gegenstimmung wiederum entrücken; alles ziemlich merkwürdig und über alle Maßen faszinierend.
Hewat-Craw & Guo ist mit ihrer Scheibe ein genialer Wurf an offenbarender Entdeckungslust geglückt.
Ich will, ich MUSS das alles hier daher aufs Enthusiatische weiterempfehlen.
|
Der Bariton Benjamin Hewat-Craw (re.) und der Pianist Yuhao Guo | Foto (C) Puran Faraturi
|
Andre Sokolowski - 24. Mai 2022 ID 13638
ENGLISH SONG
NEVER SUCH INNOCENCE
Ralph Vaughan Williams (1872-1958): The House of Life (Poetry by Dante Gabriel Rossetti)
1. Love-Sight
2. Silent Noon
3. Love’s Minstrels
4. Heart’s Haven
5. Death in Love
6. Love’s Last Gift
George Butterworth (1885-1916): Six Songs of a Shropshire Lad (Poetry by Alfred Edward Housman)
1. Loveliest of Trees
2. When I was one-and-twenty
3. Look not in my eyes
4. Think no more, lad
5. The lads in their hundreds
6. Is my team ploughing?
Ivor Bertie Gurney (1890-1937): Five Elizabethan Songs
1. Orpheus (William Shakespeare)
2. Tears (Anon)
3. Under the greenwood tree ((William Shakespeare)
4. Sleep (John Fletcher)
5. Spring (Thomas Nash)
Benjamin Hewat-Craw, Bariton
Yuhao Guo, Klavier
VÖ am 6. Mai 2022
Ars Produktion, ARS 38610
Weitere Infos siehe auch: https://www.benjaminhewatcraw.com/
https://www.andre-sokolowski.de
CD-Kritiken
Konzertkritiken
Opernkritiken
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeigen:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
BALLETT | PERFORMANCE | TANZTHEATER
CASTORFOPERN
CD / DVD
INTERVIEWS
KONZERTKRITIKEN
LEUTE
NEUE MUSIK
PREMIERENKRITIKEN
ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski
RUHRTRIENNALE
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|