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CD-Kritik

...von anderswo



Bewertung:    



Seit Mai d.J. bereichert eine bemerkenswerte Lieder-CD mit der Sopranistin Viviane Hasler und ihrer Klavierbegleiterin Maren Gamper den Phonomarkt. Sie haben sie mit MÉLODIES D'AILLEURS (dt.: Lieder von damals) betitelt.

20 Stücke aus dem romantischen wie impressionistischen Repertoire stammen von Claude Debussy (1862-1918), Ernest Chausson (1855-1899), Cécile Chaminade (1857-1944) und Reynoldo Hahn (1874-1947); insbesondere bei den neun Liedern der zwei Letztgenannten, deren Namen mir bis dahin völlig unbekannt gewesen waren, wollte ungeahnte Neugier bei mir aufkommen. Zudem stellten die beiden Künstlerinnen Wolfgang Rihms in jeder Hinsicht überanspruchsvollen drei Ophelia sings-Gesänge als "zeitgenössische Unterbrechungen" zwischen die vier französischen Lieder-Blöcke; gestalterisch wie stimmtechnisch gekonnt und also hochprofessionell.

Hasler selbst hat das vorzügliche Booklet zur CD verfasst, in ihm werden sehr allgemeinverständlich (also lesbar!) alle Werke nach und nach beschrieben, auch vermittelt sie - insbesondere zu den zwei "Unbekannteren" [s.o.] - den historischen wie biografischen Background; ich werde nachstehend hieraus zitieren.

*

Die sechs Ariettes oubliées (dt.: Vergessene Weisen) komponierte der damals erst 24-jährige Debussy in Rom und Paris. Ihre Texte stammen von Paul Verlaine, dessen Gedichte seit ihrer Vertonung wieder mehr, oder erst recht, öffentlich wahrnehmbar wurden. Als er sie 1874 veröffentlichte, saß er im Gefängnis, weil er seinen Geliebten Arthur Rimbaud angeschossen hatte - eine damals in allen französischen Gazetten genüsslich verbreitete Skandal-Story, die bis heute Stoff diverser künstlerischer Ausschlachtungen bietet. Bei dem ersten Lied (C’est l’extase) soll der Hörer eine Art von sexuellem Erleichterungs- bzw. Erschöpfungszustand nachvollziehen; es gelänge durchaus, falls die Hörerfantasie mit einem etwas durchginge. Bedeutend ruhiger resp. stimmungsvoller, halt mehr impressionistisch, geht es in den andern Ariettes zu; die Themen/ -farben sind da beispielsweise Weinen/Regen, ertrunkene Hoffnung, buntes Jahrmarkttreiben oder Green und Spleen (als Untertitel der zwei letzten Lieder dieses kleinen Zyklus).

Der Text zum ersten der drei Opus 13-Lieder von Chausson (Apaisement) stammt ebenfalls von Paul Verlaine; in ihm bewirkt der Anblick des Mondes in der Tat ein wohltuendes "Zur Ruhe kommen" des Geliebten der Geliebten - desweiteren wählte Chausson Gedichttexte von Henri Cazalis alias Jean Lahor, Auguste de Villiers de L'Isle-Adam, Charles-Marie-René Leconte de Lisle und (für Opus 2, Nr. 6) Louise Ackermann; und von all diesen genannten Lyrikerinnen und Lyrikern hatte ich, was meinen bescheidenen Horizont betrifft, noch nie etwas gehört geschweige denn gelesen.

Und nicht unähnlich erging es mir, als ich die Namen der Komponistin Cécile Chaminade und des Komponisten Reynaldo Hahn zur Kenntnis nahm - da war der Hasler & der Gamper eine echte Ausgrabung bzw. Wieder- oder sogar Erstentdeckung geglückt:


Chaminade "schrieb neben einigen Werken für größere Besetzungen vor allem viele Stücke für Klavier solo sowie über hundert Lieder. Sie war selbst eine erfolgreiche Pianistin, was man dem Klavierpart der Lieder auch anmerkt. Ihre Lieder sind wunderschöne Miniaturen, mal verspielt und sprudelnd vor Energie, dann wieder sehr intim und nachdenklich.

Es ist ihrem Pariser Nachbarn Georges Bizet zu verdanken, dass die 8jährige Cécile Kompositionsunterricht erhielt. Gegen ein Studium am Konservatorium setzt sich Céciles Vater später zwar durch, da 'unschicklich' für eine Frau, kann damit die Karriere seiner Tochter aber nicht stoppen. Sie hat bereits zu Lebzeiten großen Erfolg, vor allem aber in England und den USA. Dies ist ungewöhnlich, wurden Komponistinnen doch damals viele Steine in den Weg gelegt, so dass sich nicht wenige entschieden, ihre Werke unter männliche Pseudonym zu publizieren."



Und:


"Die Lieder von Reynaldo Hahn (1874-1947) ergreifen durch ihre musikalische Schlichtheit und kreieren eine zauberhafte Stimmung. Der Komponist wurde in Caracas, Venezuela, geboren, zog später nach Paris, wo er studierte und wirkte, neben seiner kompositorischen Tätigkeit auch als Musikkritiker und Dirigent. Er komponierte viel für Stimme, sei es in Opern, Operetten, in geistlicher Vokalmusik oder in seinen Liedern."

(Quelle: Booklet zur CD Melodies d'ailleurs)



Als meine Lieblingslieder der vorliegenden Einspielung bestimmte ich die letzten fünf, nämlich diejenigen von Reynaldo Hahn. Beim ersten (A Chloris) vermeinte ich, von seinem "Rhythmus" her, das Bach'sche Air aus der Orchestersuite BWV 1068 im Hinterkopf mitgehört zu haben; unerklärlich, wie das so abrupt geschehen konnte... Wunderschön auch L'Énamourée (dt.: Die Verliebte) und - das ganz besonders - L'heure exquise, auch so ein total verträumtes Mondlied und hinzu, zum dritten Mal in meiner Aufzählung, auf ein Gedicht von Paul Verlaine.

Die Stimme von Viviane Hasler stellt gerade hier (bei den fünf Hahn-Liedern, und ganz besonders in den leisen, immer leiser werdenden Passagen) ihr zum scheinbar Irrlichtern und Sonnambulen tendierendes Gestaltungspotenzial unter Beweis; alles wirkt irgendwie sphärisch, abgehoben und bleibt dennoch bodenständiger denn je. Die "ausgesung'nen" Linien sind geradlinig, kein unnötiges oder gar forcierendes Vibrieren. Eine hörerische Wohltat!



Viviane Hasler und Maren Gamper | Foto (C) Dominique Huwyler


* *

Hasler & Gamper konzertieren mit dem Programm ihrer CD sowohl am 11. August (im Dôme Theatre im französischen Poil) als auch am 19. Oktober (in der Stanzerei im schweizerischen Baden).
Andre Sokolowski - 18. Juli 2024
ID 14839
Mélodies d'ailleurs
Claude Debussy (1862-1918): Ariettes oubliées
Wolfgang Rihm (*1952): Ophelia sings Nr. 1
Ernest Chausson (1855-1899): Apeisement op. 13 Nr. 1
- Sérénade op. 13 Nr. 2
- L'aveu op. 13 Nr. 3
- La Cigale op. 13 Nr. 4
- Hébé op. 2 Nr. 6
Rihm: Ophelia sings Nr. II
Cécile Chaminade (1857-1944): Alleluia
- Ma première lettre
- La lune paresseuse
- Villanelle
Rihm: Ophelia sings Nr. III
Reynaldo Hahn (1874-1947): A Chloris
- Pholoé
- L'Enamourée
- Si mes vers aveient des ailes
- L'heure exquise
Viviane Hasler, Sopran
Maren Gamper, Klavier
Aufgenommen im Orchesterhaus des Luzerner Sinfonieorchesters, Kriens - vom 11. bis 14. 9. 2023
Carpe Diem Records CD-16334


https://carpediemrecords.com/de/products/melodies-dailleurs


https://www.andre-sokolowski.de

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