Abschied
von der Heimat
ANATEVKA am Theater Bonn
|
Barbara Teuber als Goldes verstorbene Großmutter, Anjara I. Bartz als Golde und Gerhard Ernst als Tevje (von links nach rechts) in Anatevka am Theater Bonn | Foto (C) Thilo Beu
|
Bewertung:
„Ich will geh’n, ich muss geh’n/ Auch wenn wir uns vielleicht nicht wiederseh’n“: Mit einer ergreifend-fulminanten Gesangsperformance verabschiedet sich Maria Ladurner in der Rolle der Hodel gefasst von ihrem Vater Tevje (Gerhard Ernst). Sie wird ihr Elternhaus und den Heimatort Anatevka, ein ostjüdisches Dorf irgendwo in Russland, verlassen. Hodel folgt ihrem Geliebten, einem revolutionären Studenten, der nach Sibirien verbannt wurde. Nach ihrem Abschied tritt ihr Vater besorgt in einen inneren Diskurs mit Gott: „Bitte beschütze sie und sorge dafür, dass sie immer schön warm angezogen ist.“ Hodel ist nicht die Erste und wird auch nicht die Letzte sein, die Anatevka für immer den Rücken kehrt.
Es sind liebevoll, tragikomisch und detailgenau inszenierte Geschichten über das Erwachsenwerden, Flucht und Vertreibung, den endgültigen Abschied vom Elternhaus und von der Heimat, welche die Anatevka-Musicalinszenierung an der Oper Bonn zu etwas Besonderem machen. Anatevka (1964) beruht auf der Erzählung Tevje, der Milchmann (1914) von Scholem Alejchem, einem der bedeutendsten jiddischsprachigen Schriftsteller. Der jüdische Dichter Alejchem emigrierte selbst 1905 aufgrund von Pogromen gegen Juden aus dem ukrainischen Odessa und reiste über viele unterschiedliche Stationen bis in die USA. Mehrere Jahre arbeitete er damals an seinem Werk Tevje, der Milchmann, das Jahre nach seinem Tod dem Komponisten Jerry Bock als Vorlage für ein preisgekröntes Broadway-Musical dienen sollte. Die Geschichte des jüdischen Milchmanns Tevje und seiner fünf Töchter erzählt Regisseur Karl Absenger nun im Bonner Opernhaus nah an der Vorlage, wenn er etwa hierzulande in Vergessenheit geratene alltägliche jüdische Bräuche fesselnd in Szene setzt.
Das Bühnenbild von Ausstatterin Karin Fritz prägen schlichte und hölzern-rustikale Accessoires wie Holzgestühl, der Milchkarren Tevjes oder Holzrahmen, welche die Räumlichkeiten Tevjes oder der Dorfkneipe andeuten. Im Bühnenhintergrund deuten Birkenstämme eine romantische Bewaldung und das Ende des Dorfes an. Den Musicalbeginn eröffnet eine große Gemeinschaft, die aus dem Publikum heraus seitlich der Besucherreihen kraftvoll singend die Bühne betritt. Die Männer tragen eine Kippa oder andere Kopfbedeckungen und lange, krause Bärte, die Frauen Kopftuch, lange, grob geschnittene Kleider und Schürzen.
Auf liebenswerte Weise lässt nun eine kleinbürgerliche Dorfgemeinschaft chorisch und choreographisch die Tradition ihrer religiös begründeten Lebensweise hochleben und feiert die eigene Kultur. Eingebunden in diese Gemeinschaft im ukrainischen Schtetl Anatevka sind auch Tevje und seine Familie. Der einfache Milchmann ernährt seine Frau und fünf Töchter. Seine ersten drei Töchter sind mittlerweile im heiratsfähigen Alter. Um die Hand von Tevjes ältester Tochter Tzeitel (Sarah Laminger) werben so der wohlhabende Metzger Lazar (Martin Tzonev) und der arme Schneider Mottel (Christian Georg). Tevje möchte seine Töchter gut unter die Haube bringen, denn drohende Gefahren kündigen sich an - ist die jüdische Bevölkerung Anatevkas im russischen Zarenreich doch fortwährenden Pogromen ausgesetzt. In an Gott gerichteten Monologen wägt Tevje gestenreich und philosophisch das Für und Wider von Argumenten für die Heiratspläne seiner Töchter und andere zukünftige folgenschwere Entscheidungen ab.
Neben Gerhard Ernst in der Rolle des Tevje und Maria Ladurner als seiner Tochter Hodel überraschen im vielköpfigen, durchweg gut besetzten Ensemble gesanglich mit beweglichen Stimmen und nuanciertem Ausdruck auch insbesondere Anjara I. Bartz in der Rolle der Mutter Golde, Martin Tzonev als Lazar und Christian Georg als sein Konkurrent Mottel. Darstellerisch vermögen auch Jeremias Koschorz als junger Russe Fedja, Maria Mallé als Heiratsvermittlerin Jente und Barbara Teuber unter anderem als Goldes verstorbene Großmutter und schrille Traumerscheinung aufregende Akzente zu setzen. Das Beethoven Orchester Bonn unter der musikalischen Leitung von Christopher Sprenger überzeugt mit vielen berückenden Solopartien etwa von Geige und Klarinette und vermag es das Geschehen im gleichen Maße wie der Chor des Theater Bonn kraftvoll mitzutragen.
Das eindrückliche Ende rührt mit seiner vieldeutigen Ungewissheit und ruft unsere gegenwärtige Flüchtlingskrise in Erinnerung. Insgesamt dürfte Karl Absengers Inszenierung somit auch durch unerwartete Aktualität noch lange in Erinnerung bleiben.
|
Ensemble in Anatevka am Theater Bonn | Foto (C) Thilo Beu
|
Ansgar Skoda - 20. April 2016 ID 9265
ANATEVKA (Opernhaus Bonn, 13.04.2016)
Musikalische Leitung: Christopher Sprenger
Inszenierung: Karl Absenger
Ausstattung: Karin Fritz
Licht: Friedel Grass
Choreographie: Vladimir Snizek
Sounddesign: Stephan Mauel
Choreinstudierung: Marco Medved
Besetzung:
Tevje … Gerhard Ernst
Golde … Anjara I. Bartz
Tzeitel, ältere Tochter … Sarah Laminger
Hodel, zweite Tochter … Maria Ladurner
Chava, dritte Tochter … Lisenka Kirkcaldy
Shprintze, vierte Tochter … Victoria Telegina
Bielke, fünfte Tochter … Sierra Douglas
Mottel Kamzoil, Schneider … Christian Georg
Schandel, Mottel Kamzoils Mutter und Oma Tzeitel, Goldes verstorbene Großmutter … Barbara Teuber
Perchik … Dennis Laubenthal
Lazar Wolf … Martin Tzonev
Fruma-Sara, seine verstorbene Frau … Daniela Päch
1. Russe … Johannes Mertes
Fedja … Jeremias Koschorz
Jente, Heiratsvermittlerin … Maria Mallé
Motschach … Michael Seeboth
Rabbi … Boris Beletskiy
Mendel, sein Sohn … Nicholas Probst
Sascha, ein Freund von Fedja … Johannes Ipfelkofer
Awram, ein Buchhändler … Josef Michael Linnek
Nachum, ein Bettler … Georg Zingerle
Jussel … Niklas Schurz
Ein Wachtmeister … Stefan Viering
Hayato Yamaguchi, Salim Ben Mammar, Abet Gino, James Atkins, Tim Čečatka, Erik Constantin … Tänzer
Chor des Theaters Bonn
Kinder- und Jugendchor des Theaters Bonn
Beethoven Orchester Bonn
Premiere an der Oper Bonn war am 13. März 2016.
Weitere Termine: 30. 4. / 15., 22. 5. / 3., 12., 15., 19., 22. 6. 2016
Weitere Infos siehe auch: http://www.theater-bonn.de
Post an Ansgar Skoda
http://www.ansgar-skoda.de
Hat Ihnen der Beitrag gefallen?
Unterstützen auch Sie KULTURA-EXTRA!
Vielen Dank.
|
|
|
Anzeigen:
Kulturtermine
TERMINE EINTRAGEN
Rothschilds Kolumnen
BALLETT | PERFORMANCE | TANZTHEATER
CASTORFOPERN
CD / DVD
INTERVIEWS
KONZERTKRITIKEN
LEUTE
NEUE MUSIK
PREMIERENKRITIKEN
ROSINENPICKEN
Glossen von Andre Sokolowski
RUHRTRIENNALE
= nicht zu toppen
= schon gut
= geht so
= na ja
= katastrophal
|