Von Bisky bis Schnipo / Pop-Kultur im Club Berghain
Teil 2
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Bewertung:
Während ein paar weibliche Teenager draußen noch verzweifelt nach Karten für den Auftritt von Schnipo Schranke suchten (das Konzert der angesagten Hamburger Newcomerinnen war als erstes ausverkauft), begann der zweite Pop-Kultur-Festivaltag in der Garderobe im Berghain mit einer interessanten Talkrunde. Maler Norbert Bisky und Tom Fritz, Leiter der Forschungsgruppe „Musikevozierte Hirnplastizität“ am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig (bei dem Titel kann man schon mal einen Knoten im Hirn bekommen) unterhielten sich angeregt über die euphorisierende Wirkung von Musik. Dabei ergänzten sich die beiden Diskutanten hervorragend. Es ist bekannt, dass Norbert Bisky sich beim Malen durch Musik inspirieren lässt, wobei er, wie er meinte, den Prozess ein Bewegen mit den Farben auf der Leinwand nennt. Der Rhythmus der Musik übersetzt sich dabei in Farben und Formen. So hat Bisky, der z.B. Crossoversachen mit Tanz ganz toll findet, bereits eine Bühneninstallation für ein Ballett in der Halle am Berghain [MASSE] geschaffen. Eine Art Tanzteppich aus vergessen Hosen von Partygängern des Berghain.
Die wissenschaftliche Note brachte aber Dr. Fritz in die Talkrunde. Er hat Fitnessgeräte mit einer eingebauten Musiksoftware entwickelt, bei denen die euphorisierende Wirkung von Musik und Bewegung aufs Gehirn genutzt wird. Er nennt die Methode, bei der bestimmte Regionen im Hirn stimuliert werden, „Jimming“. Er hat sich dafür durch Beobachtungen bei Schimpansen inspirieren lassen. Die Funktionsweise wurde dann auch sofort von den Anwesenden auf einer Art Stepper und zwei weiteren Mucki-Geräten ausprobiert. Man kann sich schon bildlich die fitness- und lifestylbegeisterte Gesellschaft beim Trainieren und Technokomponieren vorstellen. Ob das die Pop-Kultur-Zukunft ist, wird sich zeigen. Natürlich können die wissenschaftlichen Erkenntnisse auch bei der Entwicklung von Therapien gegen Alzheimer helfen.
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Der Maler Norbert Bisky beim Pop-Kultur-Festival 2015 | Foto (C) Roland Owsnitzki
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Wie diese Parallelen zwischen den Disziplinen auch ohne die demonstrierten Fitnessgeräte funktionieren, zeigte sich dann bei den folgenden Konzerten des Abends. So geschehen in der Halle am Berghain, wo bereits am Vortag die Musikbord-Stipendiaten Pantha Du Prince mit Parabolspiegeln am Kopf an drei Turntables stehend eine Kostprobe ihres melodiösen Neo-Romantik-Techno gaben und - genau wie Elektro-Dance-Pionier Matthew Herbert - am Donnerstag die Massen euphorisierten. Die Halle strahlt Power aus, bestätigte auch Soul- und Hip-Hop-Legende Neneh Cherry bei ihrem kraftvollen Auftritt im Anschluss. Neben aktuellen Songs gab sie auch einige ihrer Klassiker wie Woman oder Manchild im neu arrangierten Gewand zum Besten. Die Sängerin, die 1988 ihren ersten großen Hit mit Buffalo Stance landete, bewies trotzt dem etwas zu fettem Technobeat ihrer Begleitband RocketNumberNine, dass ihre Stimme auch eine 17 Meter hohe Industrie-Halle immer noch problemlos füllen kann. Letztmalig 2014 zur Ausstellung 10 Jahre Berghain geöffnet, könnte sich das imposante Anhängsel des originären Clubs durchaus zu einem ernstzunehmenden Veranstaltungsort mausern.
Aber auch die anderen Locations des Pop-Kultur-Festivals waren gut besucht. Pop-Musik erklang auf allen Dancefloors des Veranstaltungsgeländes. Die Gitarrenfraktion hatte man allerdings in die verschwitzte Kantine am Berghain verbannt. Dort roch es dann auch mächtig nach Teen Spirit und anderen Substanzen. Nach den extrem krachigen Gitarren einer irischen Jungs-Band, die sich allerdings Girl Band nennt, und deren Sänger gut als Kurt-Cobain-Double durchgehen könnte, zeigten die drei Damen (plus einem Herrn am Schlagzeug) der spanischen Band Mourn, wo eigentlich die Gitarren hängen und das harte Rockmusik schon lange keine Männerdomäne mehr ist. Dass der melodiöse, deutschsprachige Art-Rock nicht tot ist, beweisen nicht nur Gruppen wie Die Türen oder Ja, Panik, sondern auch die Post-Punk-Band Messer, die als Headliner der Gitarren-Session in der Kantine auftraten. Sie bringen mit ihren herrlich psychedelisch wabernden Gitarren-Sounds etwas frischen Wind in die Szene. Da schwingt auch ein wenig Dark und New Wave mit und über einem Joy-Divison-Vergleich dürfte die Band um den charismatischen Sänger Hendrik Otremba sicher nicht unglücklich sein.
Dass es auch ohne Gitarren ganz gut geht, bewiesen dann ausgerechnet zwei weitere Musikerinnen aus Hamburg. Daniela Reis und Fritzi Ernst vom zurzeit mächtig gehypten Pop-Duo Schnipo Schranke brachten die kleine Kantine am Berghain fast zum Überkochen. Ihre schrägen, aber durchaus hittauglichen Pop-Balladen mit witzigen, expliziten Texten tragen sie am Keyboard unterstützt durch Schlagzeug und Blockflöte vor. Dass die beiden eine klassische Musikausbildung genossen haben, würde man da nicht unbedingt vermuten. Von diesem verkopften Ballast mussten sich Schnipo Schranke (Hamburger Ausdruck für Schnitzel und Pommes mit Majo-Ketchup) auch erst mal emanzipieren und machen nun anerkannter Maßen beste Unterhaltungsmusik, bei der sich angenehm die Nacken- und andere Haare hochstellen. Sie singen von Mädchenträumen, der Sehnsucht nach Liebe, dem Entjungfern und anderen Intimitäten als wäre es das Selbstverständlichste von Welt, was es ja vermutlich auch ist. Und da schmeckt dann eben beim Sex untenrum auch mal alles nur nach Pisse und die Tamponade im Abfluss nicht nach Limonade. In der nächsten Woche erscheint ihr mit vielen Vorschusslorbeeren bedachtes Album satt. Empfehlung der Band im breitesten Hamburgisch: „Kaufen, ne!“
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Schnipo Schranke beim Pop-Kultur-Festival | Foto (C) Roland Owsnitzki
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Stefan Bock - 29. August 2015 ID 8836
Weitere Infos siehe auch: http://www.pop-kultur.berlin
Post an Stefan Bock
blog.theater-nachtgedanken.de
Pop-Kultur im Berghain (Teil 1)
Pop-Kultur im Berghain (Teil 3)
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