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KUNST MUSS [ZU WEIT GEHEN] ODER DER ENGEL SCHWIEG


Komponist Helmut Oehring (oben) während der Proben mit Bas Wiegers | Foto (C) Paul Leclaire

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„Kunst ist Anarchie.“ (Heinrich Böll)

Die Bühne erstreckt sich dreiwinklig direkt vor den Zuschauerreihen an den beiden vorderen Seiten. Auf der Bühne turnen noch vor Beginn sechs- bis zwölfjährige Kinderdarsteller herum und bemalen den Boden mit Kreide. Vor der hinteren Bühnenwand stehen erhöht 16 Instrumental- und Vokalsolistinnen sowie drei Sängerinnen. Die Kinder tanzen verspielt und locker zu rhythmischen Anfangsklängen vom Orchester. Sie verteilen sich, als die Musik endet, um einen Tisch. Ein Kind spricht alsbald in Gebärdensprache, ein anderes Deutsch und ein weiteres Russisch – letzteres besucht wohl eine Waldorfschule, an der Russisch Pflichtfach ist. Es werden Überschriften wie „Rudimente der Verwesung“ auf die Wand hinter dem Orchester projiziert. Aus dem Off erklingt von Band der 1947 veröffentlichte Kurztext Mit diesen Händen von Heinrich Böll. Der Text, der in seiner Bildkraft an die Kriegstagebücher des Autors erinnert, wird von René Böll, einem der drei Söhne des Literaturnobelpreisträgers, vorgetragen.

Mit der Uraufführung Kunst muss [zu weit gehen] oder der Engel schwieg an der Oper Köln erinnern der deutsche Komponist Helmut Oehring und seine Frau, die Librettistin, Dramaturgin und Regisseurin Stefanie Wördemann an Heinrich Böll, der 2017 hundert Jahre alt geworden wäre. Das Auftragswerk von der Oper Köln gibt ausgewählten Aufzeichnungen Bölls Raum, indem sie sie in einer Collage mit schrägen musikalischen Motiven vermengt. Zugleich ist die Uraufführung – eine Kooperation mit dem Ensemble Musikfabrik - auch ein Mehrgenerationenprojekt. Nicht nur der Sohn und die Enkeltochter Bölls tragen Verse Bölls vor, auch die beiden Kinder von Oehring und Wördemann und weitere sieben Kinder der Musiker aus dem Ensemble Musikfabrik führen durch den Abend, in dem sie mit kindlicher Stimme Auszüge aus Prosa, Lyrik und aus Briefen Bölls lebendig werden lassen. Die tiefsinnigen, oft poetisch- kryptischen Gedanken Bölls werden durch die monotonen, wenig nuancenreichen und manchmal kieksig affektiert klingenden Stimmen der Kinder wohltuend gebrochen. Ein Kind schlägt mit beeindruckender Ausdauer eine Brücke, während es minutenlang Böll´sche Verse spricht. Die bedeutungsvoll-schwermütige, oft auch pathetische Gedankenwelt Bölls, die sich mit einer inzwischen überkommenen Zeit auseinandersetzt, tritt so in eine Spannung mit dem Bühnengeschehen.

Besonders die sehr präsente zwölfjährige Mia Oehring, die auf der Bühne auch mal schreit und Stühle umwirft, zitiert immer wieder düstere Briefe Bölls, die dieser vor Kriegsende von der Front an seine Verlobte Annemarie Cech schrieb: „Ich bin nur ohnmächtig im Angesicht dieser bleichen, übeldunstenden Masse, die mich, wo ich ihr begegne, beleidigt und zu morden versucht. Dennoch: ich gebe den Kampf nicht auf.“ Gleich zu Anfang formen einzelne Kinder und Instrumentalisten mit ihren Händen abstrakte Gesten, die kurzzeitig einfrieren, wenn Bölls Mit diesen Händen eingespielt wird. Hier vermengt die Produktion Bölls Werk mit der Autobiografie des Komponisten Oehring. Der heute 56-jährige Oehring ist ein Kind gehörloser Eltern und verarbeitete nicht nur seinen erstaunlichen künstlerischen Werdegang in seiner 2011 veröffentlichten Autobiografie Mit anderen Augen. Vom Kind gehörloser Eltern zum Komponisten. Tatsächlich behandelt das kompositorische Werk Oehrings, das sich auch schon der Schriftstellerin Ágota Kristóf und der Malerin Käthe Kollwitz widmete, immer wieder den möglichen Verlust des Gehörsinns, was Hörgewohnheiten regelmäßig auf die Probe stellt.

Während die Kinder niedlich anzuschauen sind und die vorgetragenen Texte oft nachdenklich stimmen, sind die musikalischen Motive schwer zugänglich. Die hohen Stimmen der drei Engel (Emily Hindrichs, Adriana Bastidas-Gamboa und Dalia Schaechter) erkunden mit sirrend hellem, lang gedehntem Gesang komplexe Klangspektren und Grenzen der Tonalität. Jedoch nur in seltenen Momenten werden die getragenen Melodielinien tatsächlich eingängig, wenn etwa plötzlich der Einfluss Henry Purcells hörbar wird. Die Instrumentalisten treten immer wieder hervor und lassen mit ungewohnten musikalischen Solos aufhorchen. Ihre Vokalaktionen und ihr rhythmischer Sprechgesang kontrastieren oft mit dem getragenen Soprangesang der Engel. In kurzen Sequenzen werden einzelne Musiker plötzlich darstellerisch tätig, treten in Interaktion mit den Kindern und sprechen plötzlich auf der Bühne. So tritt Perkussionist Dirk Rothbrust plötzlich hervor, und die Kinder rufen „Papa, guck mal!“. Laut betont Rothbrust jedoch, er habe keine Zeit. Stattdessen beklagt er vehement das Nicht-Vorhandensein des Staates. Später ergehen sich die Kinder in ähnlich komplexen Betrachtungen der Welt.

Leider bleiben die performten Kompositionen, die erzählten Sequenzen und auch die ausgewählten Texte zäh und weitestgehend zusammenhanglos. Später gekonnt experimentell zitierte Klassiker wie Leonard Cohens Hallelujah und die Zuhälterballade aus Bertolt Brechts Dreigroschenoper befrieden etwas mit der insgesamt sperrigen und schwer zugänglichen Aneinanderreihung visueller und akustischer Eindrücke.



Emily Hindrichs, Adriana Bastidas-Gamboa, Dalia Schaechter und Mia Oehring in Kunst muss [zu weit gehen] oder der Engel schwieg von Helmut Oehring an der Oper Köln | Foto (C) Paul Leclaire

Ansgar Skoda - 11. Dezember 2017
ID 10419
KUNST MUSS [ZU WEIT GEHEN] ODER DER ENGEL SCHWIEG (Staatenhaus, 09.12.2017)
Idee, Komposition, Szenische Realisation: Helmut Oehring
Konzeption, Textbuch, Szenische Realisation, Dramaturgie: Stefanie Wördemann
Audiokonzeption, -Produktion, Raumkonzeption, Sounddesign, Klangregie: Torsten Ottersberg
Musikalische Leitung: Bas Wiegers
Licht: Philipp Wiechert
Besetzung:
Engel 1 / Sopran … Emily Hindrichs
Engel 2 / Mezzosopran 1 … Adriana Bastidas-Gamboa
Engel 3 / Mezzosopran 2 … Dalia Schaechter
16 InstrumentalVokalsolistInnen des Ensemble Musikfabrik (auch vokal/chorisch und szenisch)
Das junge Mädchen / Stimme live, Gitarre, Tanz, Performance … Mia Oehring
Der Junge / Stimme, Zuspiele + live, Performance … Joscha Oehring
Stimmen live + Performance Kinder der InstrumentalistInnen des Ensemble Musikfabrik … Bruno Ahrendt, Nicolai Burov, Sophie Kobler, Valentin Kobler, Franka Königsmann, Lore Leydel, Nuria Leydel
Stimme (Zuspiele und live) … René Böll
Stimme live … Samay Böll
Uraufführung an der Oper Köln: 9. Dezember 2017.
Weitere Termine: 11., 13., 21.12.2017


Weitere Infos siehe auch: http://www.oper.koeln


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