Seelenorgie mit
und (besser)
ohne Leucht-
stoffröhren
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Gerald Finley (Golaud) und Elias Mädler (Yniold) in der 2015er halbszenischen Pelléas et Mélisande-Aufführung der Berliner Philharmoniker | Foto (C) Monika Rittershaus
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Bewertung:
Pelléas et Mélisande von Debussy dürfte mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit zu Simon Rattles absoluten Favoriten zählen; und wir fühlen irgendwie, dass es vielleicht DAS Lieblingsstück (all seiner Lieblingsstücke) ist. Er hat die Oper immer wieder dirigiert. Hier in Berlin erinnern wir uns an zwei denkwürdige Aufführungen: die halbszenische Darbietung und Quasi-"Übernahme" von den Salzburger Osterfestspielen 2006 sowie Rattles Debüt an der Deutschen Staatsoper mit der Staatskapelle Berlin 2008!!
Nun gab und gibt es wiederum vier mal Pelléas - Peter Sellars [dessen jüngste Inszenierung von La Passion de Simone uns nicht sonderlich berührte] hat Regie bei dieser halbszenischen Darreichung geführt; wir waren gestern Abend zur Premiere...
"Ein mittelalterliches Sujet, eine Dreiecksgeschichte, Eifersucht und Tod – aus diesen Ingredienzien bestehen sowohl Richard Wagners Musikdrama Tristan und Isolde als auch Claude Debussys Drame lyrique Pelléas et Mélisande. Doch was für Unterschiede in der musikalischen Sprache! Der französische Komponist verstand seine einzige vollendete Oper als Gegenentwurf zu dem opulenten Musiktheater des deutschen Kollegen, den er zunächst bewunderte, sich aber später von ihm distanzierte. 'Die Musik beginnt da, wo das Wort endet, sie gibt das Unaussprechliche wieder; sie muss aus dem Schatten kommen, verschwiegen sein', lautete Debussys Credo." (Quelle: berliner-philharmoniker.de)
Diese Musik hat einen unheimlichen Sog und droht dich derart tiefgrau zu umnebeln, dass du stellenweise Atemnöte kriegst; ihr Luftfeuchtigkeitswert könnte prozentual bei 99 liegen. Alles scheint in einem Schwebefluss zu sein - entsprechend ihrer Stückvorlage (zwei allemondische Stiefbrüder gieren nach ein und derselben fremdartigen Frau, die zudem melancholisch ist; und also scheitern alle Drei an ihrem Liebesdreier) wäre alles das, emotional betrachtet, daher als geballte Seelenorgie einklassifizierbar.
Rattle nimmt es dieses Mal so wie in einem Guss. Ein von der Lautstärke her fast schon durchgehalt'ner "Mittelklang" (mit nicht zu leisem und auch nicht zu lautem Ton) empfindet sich beinahe wie ein wunderweiches Bett aus Tau und Gras. Hierein bräuchten sich die Vokal-Akteure eigentlich dann nur noch hinzulagern und mit Singen zu beginnen - allerdings werden sie von dem Sellars über vier der fünf Akte hinweg fast unentwegt dazu genötigt, durch das Saalesinnere des Hans-Scharoun-Baues treppauf, treppab zu ihren jeweiligen Positionen/Standorten zu eilen resp. sich zu selbigen hin, her zu mühen; das erzeugt dann schon ein heftig Maß an unbotmäßiger Verunruhigung. Zehn in Spektralfarben brennende Leuchtstoffröhren (Licht-Design von Ben Zamora), die dann hie und da einfach so hingestellt wurden, haben gewiss eine regieliche Bedeutung; hätte man sie weggelassen, wäre es, rein optisch, ein Gewinn gewesen. Ganz allein im fünften Akt (auch vom beleuchtungstechnischen Aspekt her) gab es endlich dann, außer bloß Halb- bzw. Volldunkles davor, auch Helles und v.a. Sichtbares zum Schauen.
Magdalena Kožená vermag ihre Paraderolle fast noch besser durchzuschauspielern als abzusingen; sie vibriert etwas zu stark. / Gerald Finley (als Golaud) wirkt aufs Äußerte bezwingend, und entsprechend klingt er auch. / Bei Christian Gerhaher, dem derzeit besten Kunstliedsänger auf der Welt, sind regelrechte Eruptionen "aus sich raus" beobachtbar gewesen; dieses (seiner Rolle geschuldete) Hyperventilieren kannte man bei ihm bisher noch nicht. / Franz-Josef Selig zelebriert mit gurnemanzmäßigem Pathos den Entblindungsschub vom König Arkel, dass es eine hörerische Wonne ist. / In der schier heikel-schweren Yniold-Partie bezaubert auf das Triumphalste Elias Mädler (ein Solist des Tölzer Knabenchores). / Geneviève wird von Bernarda Fink gesungen; und Jörg Schneider mimt den Arzt...
Sehr schade, dass die doch stark physischen und auch mitunter handgreiflich bemerkenswerten Rollen-Studien von dem Sellars nicht durch etwaige Live-Film-Kommentare unterstrichen und/oder verdeutlicht worden sind - bei Katie Mitchell und Frank Castorf, beispielsweise, gehen halt dann solcherlei Erarbeitungen wegen der Detailvergrößerungen (mittels Video) nie verloren. Nur mal so als Wink mit Zaunspfahl randbemerkt.
Im Ganzen aber: Deprimierend schön.
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Christian Gerhaher und Magdalena Kožená als Pelléas et Mélisande mit den Berliner Philharmonikern (Inszenierung: Peter Sellars) | Foto (C) Monika Rittershaus
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Andre Sokolowski - 17. Dezember 2015 ID 9044
PELLÉAS ET MÉLISANDE (Philharmonie Berlin, 16.12.2015)
Halbszenische Aufführung
Inszenierung: Peter Sellars
Besetzung:
Mélisande ... Magdalena Kožená
Pelléas ... Christian Gerhaher
Geneviève ... Bernarda Fink
Arkel ... Franz-Josef Selig
Golaud ... Gerald Finley
Yniold ... Elias Mädler
Ein Arzt ... Jörg Schneider
Schäfer ... Sascha Glintenkamp
Mitglieder des Rundfunkchors Berlin
(Choreinstudierung: Nicolas Fink)
Berliner Philharmoniker
Dirigent: Sir Simon Rattle
Premiere war am 16. Dezember 2015
Weitere Termine: 17., 19., 20. 12. 2015
Weitere Infos siehe auch: http://www.berliner-philharmoniker.de
Pelléas et Melisande unter Simon Rattle in Berlin:
Berliner Philharmoniker | 21. April 2006
Deusche Staatsoper Berlin | 23. April 2008
http://www.andre-sokolowski.de
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