Es ist eine Kunst zu Sterben, ohne die es keine Kunst des Lebens gibt
REQUIEM POUR L.
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Foto (C) Chris van der Burght
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Bewertung:
Voller Respekt wird auf der Bühne inmitten von Gräbern, dem Stelenfeld in Berlin gleich (einem Denkmal für die ermordeten Juden Europas), der Tod zelebriert.
Wir begleiten eine Frau beim Sterben. Die bühnenbreite Projektionswand zeigt uns in langsamen Bildern das Dahinscheiden von L., und es bedeutet auch, dem eigenen Tod zu begegnen.
Diese Vorführung ist berührend und erhebend zugleich. Mit Alain Platel, einem Choreografen und Autodidakten, erleben wir das Experiment, den Moment des Dramas zuzulassen.
Er erschafft mit den 14 Musikern und Tänzern etwas Neues, scheut keine Grenzen, kein Experiment; alles kann passieren. Er mag das echte Leben, hat er doch eigentlich Psychologie studiert, ist an dem Menschen interessiert.
Mozarts berühmtes Requiem war zum Zeitpunkt seines Todes 1792 ein Fragment; er schrieb es für seine eigene Totenfeier. So kann es heute neu interpretiert und mit anderen Kunstformen eine Symbiose eingehen. Der Komponist Fabrizio Cassol lässt eine Oper entstehen, die gemischt mit Jazz und populärer Musik aus Afrika das Gemeinsame betont, die Verbindung zwischen unterschiedlichen Kulturen.
Es wird zu einer musikalischen Zeremonie, virtuos, exzentrisch geben sich die Sänger, Musiker und Tänzer. Irgendwie sind sie alles in einem, eine Einheit, schwarz gekleidet und dann wiederum mit sehr individuellen fantastischen Frisuren. Es steht auch jeder für sich, für seine Kraft und Verantwortung dem Leben gegenüber.
Wir alle sterben, das ist nicht nur zutiefst menschlich, sondern existenziell, und es eint uns - ganz gleich, welcher Hautfarbe und welchen Kulturkreises wir angehören. Symbolisch gesehen, ist es die Verbindung von Himmel und Erde, Hochzeit und Geburt. Und so wird auch dieser Tod von L. gefeiert, besungen und getanzt, reinen Herzens und voller Respekt.
Wie Schwanenfedern flattern tanzende Hände gen Himmel, helfen uns als Zuschauer, diesen Seelenflug zu begleiten. Und dann wieder erotische tänzerische Bewegungen, begleitet von treibenden Bässen, sind wir doch auch der Erde verbunden, brauchen Struktur und Rhythmus.
Diese Aufführung hilft, Frieden zu schließen; Frieden mit sich selbst.
Dann schwindet die Zeit mehr und mehr, wird unwichtig. Plötzlich öffnet L. ihre Augen weit. Ist es das Ende? Wir wissen es nicht und begleiten die Feierlichkeiten weiter, begegnen auch unserer Angst vor dem Sterben.
Es wird Zeit, den Tod voller Vertrauen anzuerkennen, ihn zu sehen als das, was er ist. Das Ende.
* *
Wir erleben sphärisches, rhythmisches Zusammenspiel einer tief klingenden, melancholischen Tenorposaune mit dem durchgehenden Schwingen eines Akkordeons. Operngesang trifft auf Doppelhals-Gitarre, Schlagzeug und Perkussionsinstrumente geben den Groove.
Plötzlich ein Trommelschlag - Schock!
Dann erklingt wieder leicht ansteigend das singende „Lacrimosa“.
„Halt mich!“ Hände berühren sich, geben liebevolle Begleitung. „Bleib hier. Bleib bei mir“, scheinen sie zu sagen. Doch der Tod ist unvermeidlich.
Mozarts No. 7 bedeutet die Tränenreiche. Auch ich als Zuschauerin bin zu Tränen gerührt, weil ich hier den Schmerz und die Liebe teilen sehe.
Herzen schlagen, und ein Summen zieht vibrierend durch den Raum, ruckartiges Atmen begleitet das Sterben. Für die Tänzer und Musiker aber geht das Leben weiter. Tanzend erheben sie weiße Taschentücher zum unvermeidbaren Abschied. L. ist tot. Man legt andächtig Steine auf ein Grab. Was kann man tun? Es bleibt Erinnerung, die im Angesicht des Lebens verblassen wird. Mit Musik und Tanz wird es leichter sein, zu akzeptieren.
In Afrika gibt es noch dieses gemeinsame Ritual, und alles kann währenddessen passieren. Das macht die Seelenarbeit leichter, lässt Trauer zu und auch Freude. Dem Tod wird neues Leben folgen. Und das muss gefeiert werden. Das Leben feiern zu können ist hier die Kunst.
Lacrimosa.
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Requiem pour L. auf Kampnagel Hamburg | Foto (C) Liane Kampeter
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Liane Kampeter - 11. April 2018 ID 10635
Weitere Infos siehe auch: http://www.kampnagel.de
Post an Liane Kampeter
http://www.liane-kampeter.de
Uraufführungen
Requiem pour L.
(im Haus der Berliner Festspiele | 18.01.2018)
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