Schwebende
Spermien
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Holofernes an der Oper Bonn | Foto (C) Thilo Beu
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Bewertung:
Der österreichische Komponist Emil Nikolaus Joseph Freiherr von Reznicek (1860-1945) - wunschkonzerthörenden Opernfreunden durch dessen Donna Diana-Ouvertüre allgemein vertraut - war, was womöglich nicht so allgemein vertraut sein dürfte, NS-Staat-affin und demzufolge im System der nationalsozialistischen Kultur- und Kunstauffassung gänzlich involviert:
"Im Juli 1933 ließ er seine 1925 entstandene Festouvertüre, die mit der Wacht am Rhein schließt, unter dem neuen Titel Befreites Deutschland uraufführen. Von 1934 bis 1942 war er deutscher Delegierter im 'Ständigen Rat für die internationale Zusammenarbeit der Komponisten'. Er erhielt 1935 die Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft, und am 20. April 1936 ernannte ihn Adolf Hitler erneut zum Professor. 1938 wurde sein Streichquartett im Rahmen der Reichsmusiktage aufgeführt. Im selben Jahr wurde er vom Präsidenten der Reichsmusikkammer als Reichskultursenator vorgeschlagen. Seit 1940 erhielt Reznicek einen monatlichen Ehrensold und im Dezember 1944 eine einmalige Dotation über 30.000 RM."
(Quelle: Wikipedia)
Vergegenwärtigt man sich also diese nicht ganz nebensächliche Bemerktheit aus der Vita jenes Künstlers, drängt sich - irgendwie doch - gleich die Frage auf: Warum befördert ein Theater plötzlich eines von den (höchstwahrscheinlich lange, lange nicht mehr aufgeführten) Werke jenes Mannes aus dem mumienstarren Tiefschlaf ins Pulsierende der Gegenwart? was rechtfertigt den Reznicek'schen Holofernes (UA 1923) heutzutage wiederaufzuführen resp. aktuellpolitisch zu befragen??
Diese Frage blieb - trotz eines umfangreich und ziemlich gründlich recherchierten und zusammengestellten Programmhefts (inkl. eines installierten Extra-Blogs im Internet) - relativ "unbeantwortet" auf weiter Strecke liegen, denn: Allein die Reznicek'schen Opernklänge, die nach einem zugegebner Maßen laienhaften ersten Hören wenige bzw. überhaupt nicht keine Spuren hinterlassen sollten, dürften es wohl allenthalben nicht gewesen sein. Der erste Teil dümpelt mehr oder weniger kulminationslos mit viel Sprechgesang daher, ja und im zweiten Teil konnte es sich der Komponist mitnichten dann verkneifen, auf seine ungleich bedeutungsvollere "Enthauptungsschwester" Salome (derjenigen von Richard Strauss) bis zum Verwechseln ähnlich hinzuweisen. Freilich gibt es auch womöglich unverwechselbare Stellen in dem merkwürdigen Opus, ohne jede Frage - wer da allerdings gehofft hätte, irgendwas Nachsummbares zu behalten: Fehlanzeige. (Ja doch, Lulu lließe sich natürlich auch nicht ohne Weiteres so nachsummen; da haben Sie schon Recht; doch Lulu war ja schließlich auch ein völlig anderes Kaliber.)
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Die Oper Bonn setzte bei ihrer Produktion auf szenische Distanz. Jürgen R. Weber (Inszenierung) machte deutlich, dass man sich als Holofernes-Ausführende heutzutage dieser Art von Bibelstunde à la Rezicek vielleicht nur in dem Pathos eines Stummfilms nähern oder widmen kann; völlig zurecht wird auch die dementsprechend altbackene Hollywood-Judith of Bethulia (1914) punktuell im Hintergrund zitiert; aber das hatte auch schon Castorf, als er seine Hebbel-Judith in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz neulich stemmte, so gemacht. In Bonn schweben zudem luftschiffig-zeppelinartige Riesenspermien überm filmsetreifen Bühnenbild Hank Irwin Kittels nebst der Star Wars-Kostümierungen Kristopher Kemps - wir deuteten das als "No go" der Judith, sich vom Holofernes (vor dessen Enthauptung durch sie selbst) ein Kind gar eingebrockt zu haben...
Allen etwaigen "Vorwürfen" zum endgültigen Trotz:
Wir sind begeistert von der szenisch-distanzierten (und ironisierenden!) Gesamtsicht!
Jacques Lacombe zeichnet als Dirigent des Beethoven Orchesters und des Oper Bonn-Ensemble musikalisch hauptverantwortlich.
Ja und die sensationell singende und spielende Johanni van Oostrum (als Judith) war und ist die hauptsächliche Attraktion und auch der Hauptgrund, sich das Alles ruhig dort anzutun!!
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Kopf und Melone - das Ende von Holofernes (an der Oper Bonn) | Foto (C) Thilo Beu
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Andre Sokolowski - 20. Juni 2016 ID 9391
HOLOFERNES (Theater Bonn, 18.06.2016)
Musikalische Leitung: Jacques Lacombe
Inszenierung: Jürgen R. Weber
Bühne: Hank Irwin Kittel
Kostüme: Kristopher Kempf
Licht: Friedel Grass
Dramaturgie: Andreas K. W. Meyer
Choreinstudierung: Marco Medved
Besetzung:
Osias, Oberpriester von Bethulien ... Daniel Pannermayr
Judith ... Johanni van Oostrum
Abra, ihre Magd ... Ceri Williams
Holofernes ... Mark Morouse
Achior, Hauptmann des Holofernes ... Johannes Mertes
1. Hauptmann ... Jonghoon You
2. Hauptmann ... Nicholas Probst
3. Hauptmann ... Sven Bakin
Assad, ein Bürger ... Martin Tzonev
Daniel, sein Bruder ... Josef Michael Linnek
Gesandter von Mesopotamien ... Martin Tzonev
Ein Trabant ... Egbert Herold
Eine weibliche Stimme ... Vardeni Davidian (sängerisch) / Katrin Bothe (szenisch)
Tänzerin ... Karioca
Statisterie und Chor des Theaters Bonn
Beethoven Orchester Bonn
Premiere an der Oper Bonn: 29. Mai 2016
Weitere Termine: 24. 6. / 3. 7. 2016
Eine Kooperation mit Deutschlandradio Kultur, dem WDR und dem SWR
Rundfunktermine des Premieren-Mitschnitts:
25. Juni, 19:05 - DeutschlandradioKultur
10. Juli, 20:03 - SWR 2 Oper
Weitere Infos siehe auch: https://holofernesblog.wordpress.com
http://www.andre-sokolowski.de
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